Fachgespräch im Ministerium: Auch Veganer benötigen eine Ernährungsberatung
- 17.12.2015
- News
- Myrna Apel
Mit rund 90 Teilnehmern war die Veranstaltung am 2. Dezember im Hessischen Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (HMUKLV) bis auf den letzten Platz ausgebucht. Die große Resonanz dürfte auch auf die Teilnahme des Ernährungswissenschaftlers Prof. Dr. Claus Leitzmann zurückzuführen sein, der die sogenannte „Gießener Formel", die Definition der Vollwert-Ernährung*, mitentwickelte und selbst vegetarisch lebt.
Leitzmann lud die Teilnehmer auf eine kleine Zeitreise ein und führte historisch in den Werdegang des Vegetarismus ein, aus dem die vegane Ernährungsweise entstanden ist. Heute lässt sich dieser Ernährungstrend in verschiedene, teils wenig bekannte Formen einteilen. Beispielsweise gibt es die frugane Ernährung (vorwiegend Früchte) und die vegane Rohkost mit ausschließlich rohen, pflanzlichen Lebensmitteln. Strikte Veganer meiden nicht nur tierische Lebensmittel, sondern auch Gebrauchsgegenstände, Konsumgüter und Rohstoffe wie Leder und Wolle.
„Schätzungsweise ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland lebt vegan", so der Ernährungswissenschaftler. Er betonte, dass dabei die Gründe für eine vegane Ernährung auf ganz unterschiedlichen Motiven beruhen – zum Beispiel auf gesundheitlichen oder ökologische Aspekten. Allerdings schütze dies Veganer nicht davor, eine Ernährungsberatung zu benötigen. Wer sich ausgewogen vegan ernähren will, muss sich ausreichend informieren. Leitzmann plädiert für eine vielseitige vegane Vollwert-Ernährung. Diese beinhaltet rein pflanzliche, gering verarbeitete Lebensmittel, im Idealfall regionale, saisonale und fair gehandelte (Bio)produkte mit wenigen beziehungsweise keinen Zusatzstoffen. Der Experte präsentierte einige Hinweise zu Verzehrmengen bestimmter Lebensmittel, die für eine gesunde Ernährungsweise von Vegetariern und Veganern notwendig sind.
Auf die Frage, ob er vegane Ernährung grundsätzlich empfehlen könne, äußerte sich der Experte allerdings ungeahnt deutlich: „Die vegetarische Vollwertkost kann ich guten Gewissens empfehlen, die vegane Ernährung nicht." Dies läge daran, dass einfach zu viele Menschen mit der veganen Ernährungsweise Probleme haben und sie nicht richtig umsetzen. „Die Beratung dieser Menschen würde ich mir allerdings zutrauen", sagte Leitzmann. Zu seinen Empfehlungen zählen unter anderem die Einnahme von Vitamin B12 als Nahrungsergänzung und die Zufuhr von Omega-3-Fettsäuren aus frisch gemahlenen Leinsamen.
Unterversorgung bei Mikronährstoffen
Über das Potential vegetarischer und veganer Ernährung zur Prävention von ernährungsbedingten Erkrankungen referierte im Anschluss Prof. Dr. Kathrin Kohlenberg-Müller von der Hochschule Fulda. Die Fachfrau für Ernährungsphysiologie und Humanernährung machte das Publikum zunächst auf den „Europäischen Aktionsplan Nahrung und Ernährung (2015 – 2020)" des WHO Regionalkomitees für Europa aufmerksam. Dieser soll „die Belastung der Europäischen Region durch vorzeitige Todesfälle und ernährungsbedingte nichtübertragbare Krankheiten, Adipositas und alle anderen noch prävalenten Fehlernährungsformen signifikant verringern", heißt es in dem Papier.
Nach der Zukunftsvision des Aktionsplans sollen sich alle Bürger während ihres gesamten Lebens gesünder ernähren. Kann vegane Ernährung dabei helfen oder gar die Lösung sein? Kohlenberg-Müller berichtete von verschiedenen Forschungsarbeiten. In einer dänischen Studie mit 70 Veganern waren diese im Verhältnis zur Kontrollgruppe (1257 Omnivore) mit Ausnahme von Protein besser mit Makronährstoffen versorgt. Bei den Mikronährstoffen wie etwa Vitamin D und Vitamin B12 erreichten die Veganer die Zufuhrempfehlungen jedoch nicht.
Risikofaktoren für nichtübertragbare Krankheiten wie Übergewicht, so Kohlenberg-Müller, lägen bei Veganern und Vegetariern seltener vor. Beobachtungsstudien und prospektive Kohortenstudien bestätigen demnach immer wieder, dass Veganer und Vegetarier einen niedrigeren BMI haben. Bei Bluthochdruck und Diabetes mellitus ist laut den Daten einer US-Kohortenstudie mit Siebenten-Tags-Adventisten das Erkrankungsrisiko bei Veganern sogar um über 70 Prozent verringert.
Aus Kohlenberg-Müllers Vortrag geht jedoch deutlich hervor: Auch wenn der Gesundheitsstatus vieler Veganer und Vegetarier gut zu sein scheint, die begrenzte Datenlage lässt noch keine umfassenden Schlussfolgerungen zu den Gesundheitseffekten dieser Ernährungsweise zu. Bei Veganerstudien handelt es sich meist nicht um eine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung.
Tierwohl im Fokus
Zum Abschluss des Fachgesprächs sollte auch die landwirtschaftliche Sichtweise von Veganern nicht zu kurz kommen. Als dritte Referentin präsentierte Manika Rödiger vom Fachbereich Ökologische Agrarwissenschaften der Universität Kassel eine von der Landwirtschaftlichen Rentenbank finanzierte Arbeit zu den „Einstellungen von Veganern zur Landwirtschaft und Schlussfolgerungen für den ökologischen Landbau".
Rödiger und Kollegen werteten dafür 337 Fragebögen von Veganern aus. Es zeigte sich: Wer vegan lebt ist vorrangig weiblich, jung und gut gebildet. Die meisten Befragten befinden sich im Alter zwischen 25 und 29 Jahren, 65 Prozent sind Frauen und 80 Prozent verfügen über ein Abitur.
Die Hauptmotivation der Befragten, sich vegan zu ernähren, bestand in den drei Motiven Tierwohl, Gesundheit und Nachhaltigkeit. Die Teilnehmer wurden unter anderem gebeten, das Tierwohl in der Landwirtschaft zu beurteilen. Dabei zeigte sich, dass die vegane Ernährung stark im Zusammenhang mit der Kritik an landwirtschaftlicher Tierhaltung steht. So glauben etwa 80 Prozent der Befragten, dass es den Tieren in großen Stallanlagen nicht gut geht. Es ist somit gut möglich, dass sich mehr Menschen für eine vegane Ernährung entscheiden, wenn die Landwirtschaft nicht angemessen auf die Kritik dieser Meinungsträger reagiert. Die vegane Ernährungsform basiere auf Werten und Normen und die seien bekanntlich relativ stabil, so Rödiger.
Andererseits lehnte in der Studie ein Drittel der Veganer Tierhaltung nicht grundsätzliche ab. Laut Rödiger ist dies eine wichtige Zielgruppe für den Ökolandbau, da dieser ohne tierische Hilfsstoffe schwierig umzusetzen ist. Um den Kreislaufgedanken der Bodenfruchtbarkeit zu erhalten, sind betriebseigene organische Dünger notwendig. Stattdessen menschliche Exkremente zur Düngung einzusetzen, dürfte nach den derzeitigen Umsetzungsmöglichkeiten schwierig werden und stieß auch beim Publikum im Saal auf Ablehnung.
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Weitere Informationen
Professionell moderiert wurde der Nachmittag von Dr. Ulrike Kreinhoff von der Sektion Hessen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Sie wies passenderweise darauf hin, dass die DGE noch im Dezember ein Positionspapier zu veganer und vegetarischer Ernährung veröffentlichen wird. Bereits im November hatte der DGE-Präsident Prof. Helmut Heseker das Papier angekündigt: „Jetzt ist die Zeit einfach reif dafür".
* Vollwert-Ernährung ist eine überwiegend pflanzliche (lakto-vegetabile) Ernährungsweise, bei der gering verarbeitete Lebensmittel bevorzugt werden. Gesundheitlich wertvolle, frische Lebensmittel werden zu genussvollen und bekömmlichen Speisen zubereitet. Die hauptsächlich verwendeten Lebensmittel sind Gemüse und Obst, Vollkornprodukte, Kartoffeln, Hülsenfrüchte sowie Milch und Milchprodukte, daneben können auch geringe Mengen an Fleisch, Fisch und Eiern enthalten sein. Ein reichlicher Verzehr von unerhitzter Frischkost wird empfohlen, etwa die Hälfte der Nahrungsmenge. (Aus: Leitzmann, C.; v. Koerber, K.; Männle, Th.: Vollwert-Ernährung. Konzeption einer zeitgemäßen und nachhaltigen Ernährung. 11. Aufl., S. 3, Stuttgart 2012)