Wissenschaftsförderung: Wandel der Agrar- und Ernährungssysteme notwendig – Wissenschaftsrat veröffentlicht Positionspapier und empfiehlt Neuorientierung der Agrar- und Ernährungswissenschaften
- 10.07.2023
- News
- Redaktion
Ausgangssituation
Die Agrar- und Ernährungssysteme sind trotz stetig gestiegener Produktivität in ihrer derzeitigen Ausrichtung nicht zukunftsfähig und weisen Dysfunktionalitäten auf. Weltweit leiden 830 Millionen Menschen an Hunger, zwei Milliarden Menschen sind übergewichtig oder adipös – mit erheblichen Folgen für die Gesundheit der Menschen und die Gesundheitssysteme. Gleichzeitig tragen derzeit verbreitete Produktionsweisen maßgeblich zu Klimawandel und Artenverlust bei. Der Wert von Lebensmitteln ist in den Lebensmittelpreisen nicht abgebildet; ihre tatsächlichen Kosten sind ausgelagert und kehren auf indirektem Weg, etwa zur Bewältigung von Klimawandel und Umweltschäden, zu den Konsumierenden zurück. Vor diesem Hintergrund hat das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) den Wissenschaftsrat gebeten, strukturelle und inhaltliche Perspektiven für die Agrar- und Ernährungswissenschaften zu entwickeln.
Die Empfehlungen
Auf Grund der skizzierten Herausforderungen, vor denen das globale Ernährungssystem steht, ist ein grundlegender Wandel – eine Transformation – des Ernährungssystems zwingend notwendig. Dies erfordert gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse, die wissenschaftlich unterstützt und begleitet werden müssen. Der Wissenschaftsrat betont in seinem Papier den international anerkannten und leistungsfähigen Wissenschaftsstandort Deutschlands und bestätigt damit gute Voraussetzungen, um systemische Ansätze zu verfolgen und nötige Transformationen zu unterstützen. Allerdings müsse eine Neuorientierung in der Breite verfolgt werden, d. h. in der Forschung ebenso wie in der (hoch-)schulischen Ausbildung, der Qualifizierung der Nachwuchskräfte für den akademischen und den außerakademischen Arbeitsmarkt sowie der Gestaltung von Aktivitäten in Transfer, Kommunikation und Beratung.
Die Förderung und Unterstützung der bestehenden Forschungsstandorte sei essenziell, so der Wissenschaftsrat. Ergänzend sei jedoch auch eine Stärkung systemischer Betrachtungsweisen erforderlich, um verschiedene Formen von Wissen zu generieren:
- Systemwissen über die Funktionsweise des Ernährungssystems in seiner Komplexität einschließlich relevanter Interdependenzen, Synergien und Zielkonflikte innerhalb und zwischen seiner Subsysteme.
- Transformationswissen über die Einflussfaktoren auf menschliches Verhalten und den notwendigen gesamtgesellschaftlichen und systemischen Wandel.
- Orientierungswissen, gewonnen durch eine Reflektion der gewonnenen Erkenntnisse hinsichtlich ethischer und politischer Prinzipien und Werte.
- Pluralität der Wissensformen, meint die Berücksichtigung traditionellen und lokalen Wissens ländlicher und indigener Gemeinschaften, welches über lange Zeiträume hinweg transgenerational akkumuliert wurde.
Hierfür fordert der Wissenschaftsrat eine stärkere Integration von Agrar- und Ernährungsforschung, und eine engere Zusammenarbeit mit benachbarten relevanten Disziplinen einschließlich der Sozial- und Geisteswissenschaften. Ebenso relevant seien transdisziplinäre Forschungsverbünde, die z. B. einen engeren Austausch mit Akteuren aus anderen gesellschaftlichen Bereichen, inklusive Praxis, Politik, Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit ermöglichen. Auch verschiedene Formate und Formen fundierter Wissenschaftskommunikation und ein wechselseitiger Wissenstransfer zwischen den genannten Bereichen sollte unterstützt werden.
Das Engagement für diese ressourcenintensiven und herausfordernden Aufgaben muss laut Wissenschaftsrat von den Reputations-, Bewertungs- und Anreizsystemen der Wissenschaft stärker honoriert werden, etwa bei der Mittelvergabe und bei Einstellungs-, Beförderungs- und Berufungsverfahren. Zudem sollten entsprechende Inhalte stärker in der hochschulischen Aus- und Weiterbildung verankert werden.
Das Gremium kommt in seinem Positionspapier zu dem Schluss, dass die deutschen Agrar- und Ernährungswissenschaften in der Verantwortung stehen, aktiv an den erforderlichen Transformationsprozessen mitzuwirken. Hierfür bedarf es in der Breite einer Neuorientierung in den Wissenschaftsfeldern, die eine flächendeckende Implementierung systemischer Ansätze und einer transformativen Perspektive zum Ziel hat. Der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, Wolfgang Wick, kündigt an, dass der Wissenschaftsrat aufbauend auf dieser grundlegenden Positionierung im Sommer 2024 konkrete Struktur- und Prozessempfehlungen für die deutschen Agrar- und Ernährungswissenschaften vorlegen wird.
Hintergrund und Einordnung
(umk) Der Wissenschaftsrat ist das älteste wissenschaftspolitische Beratungsgremium in Europa und wurde am 5. September 1957 in der Bundesrepublik Deutschland von Bund und Ländern auf der Grundlage eines Verwaltungsabkommens gegründet. Er berät die Bundesregierung und die Regierungen der Länder in allen Fragen der inhaltlichen und strukturellen Entwicklung der Wissenschaft, der Forschung und des Hochschulbereichs. Informationen zum Selbstverständnis und zur Zusammensetzung des Gremiums finden Sie unter [2]. Zurzeit ist kein/e Vertreter/in aus den Bereichen Agrar- und/oder Ernährungsforschung Mitglied der wissenschaftlichen Kommission.
Zukünftige Herausforderungen der Ernährungsforschung beschreibt bereits das aktuelle Positionspapier „Perspektiven für die Ernährungsforschung 2022“ der Deutschen Gesellschaft für Ernährung [3]. Über die vorgeschlagenen Lenkungsmittel („Anreizsystem“) greifen die Empfehlungen des Rates schon sehr in die Wissenschaftsfreiheit ein und drängen die genannten Fachrichtungen sehr in eine unmittelbar anwendungsorientierte Richtung. Die Intention mag angesichts der Herausforderungen des Ernährungssystems verständlich sein, zu begrüßen sind vor allem die Überlegungen zur systemischen Betrachtungsweise, doch gilt in diesem Zusammenhang auch die bereits 1978 erfolgte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Wissenschaftsfreiheit, wonach „gerade eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits- und politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen befreite Wissenschaft dem Staat und der Gesellschaft im Ergebnis am besten dient.“[4]
Das Positionspapier zum Download:
https://www.wissenschaftsrat.de/download/2023/1189-23.html
[1] Pressemeldung des Wissenschaftsrats vom 24.04.2023, https://www.wissenschaftsrat.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/PM_2023/PM_1123.html
[2] www.wissenschaftsrat.de/DE/Ueber-uns/Wissenschaftsrat/Mitglieder/mitglieder_node.html
[3] Linseisen J, Renner B, Buyken A, et al. for the German Nutrition Society: Perspectives for nutrition research 2022. Position of the German Nutrition Society (DGE). Ernahrungs Umschau 2022; 69(12): 184–9
[4] Bundesverfassungsgericht, Beschl. V. 1.3.178 – 1 BvR 333/75