Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin: Evidenzbasierte statt erlösgesteuerte Medizin
- 11.03.2019
- News
- Redaktion
„Deutschland gibt 11,2 % seines Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus – das ist der Spitzenwert in der EU…“, so rügte kürzlich die EU-Kommission. Dabei liegt die durchschnittliche Lebenserwartung der deutschen (80,7 Jahre) nur auf Platz 18 in der EU [1]. Diese Daten stehen im Widerspruch zu den oft über die Medien kolportierten Lobpreisungen des deutschen Gesundheitssystems. Aber nicht nur ein im europäischen Vergleich enttäuschendes Ergebnis wird erzielt, vielmehr ist der Unterschied in der Lebenserwartung innerhalb Deutschlands zwischen den niedrigsten und höchsten Einkommensgruppen eklatant. Für Frauen beträgt er etwa 8 Jahre und in Bezug auf Lebensjahre in sehr gutem oder gutem allgemeinen Gesundheitszustand sogar 13 Jahre [2]. Eine nicht zu vernachlässigende Ursache dürfte die mangelnde Bildungsgerechtigkeit als eine wesentliche Voraussetzung für gesundheitliche Chancengerechtigkeit sein. Deutschland liegt auch hier nur im unteren Mittelfeld der Industrieländer [3].
Eine Ursache der mangelnden Kosten-Effektivität des deutschen Gesundheitssystems ist die einschlägig beschriebene weit verbreitete Überdiagnostik und Übertherapie, wie bspw. im Hinblick auf bildgebende Diagnostik oder Eingriffe an der Wirbelsäule. Der Schaden liegt nicht nur in der Mengen- und Kostenausweitung, sondern vor allem in der Gefährdung des Patientenwohls [4].
Der Missstand ist so offensichtlich, dass aus der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) eine Initiative zu „Medizin und Ökonomie" angestoßen wurde. Es werden Maßnahmen für eine wissenschaftlich begründete, patientenzentrierte und ressourcenbewusste Versorgung formuliert [5]. An erster Stelle wird gefordert, Patienteninformation und partizipative Entscheidungsfindung konsequent zu implementieren. Es ist empirisch belegt, dass die Patientenpartizipation ein bisher nicht umgesetztes Kernelement der Evidenzbasierten Medizin ist [6]. Weiterhin adressieren die Forderungen der AWMF-Initiative das erlösgesteuerte Management der Gesundheitsversorgung im Krankenhaus und die Steuerung der Krankenhausplanung. Das EbM-Netzwerk unterstützt die AWMF-Initiative und möchte die Kritik am Gesundheitswesen auch auf die anderen Settings der Gesundheitsversorgung einschließlich der Pflege ausweiten. Auch hier ist die Gewinnmaximierung tief eingedrungen. Pflegeheime z. B. sind beliebte Objekte der Spekulation am Gesundheitsmarkt geworden, niedergelassene Ärzte binden ihre knappe Arbeitszeit mit IGeL- oder nicht evidenzbasierten Untersuchungen von Gesunden.
Das EbM-Netzwerk appelliert an die Verantwortlichen in der Regierung, das Geschäftsmodell der deutschen Gesundheitsversorgung mit den hohen und stetig steigenden Kosten und dem vergleichsweise schlechten Outcome zu beenden. Die erlösgesteuerte Versorgung muss ein Ende finden. An deren Stelle kann nur eine am Patientenwohl orientierte gemeinnützige Medizin treten.
Literatur:
- EU-Kommissar moniert „Überversorgung“ im deutschen Gesundheitswesen. Ärzteblatt.de, news vom 29.10.2018
- Lampert T, Kroll LE. Soziale Unterschiede in der Mortalität und Lebenserwartung. Robert Koch-Institut (Hg). GBE kompakt, Berlin, Stand 16.06.2016
- UNICEF Office of Research – Innocenti. An unfair start. Inequality in children’s education in rich countries. Florenz, Oktober 2018
- Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung. Gutachten 2018. www.svr-gesundheit.de/index.php?id=606 Zugriff 27.02.19
- Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. Medizin und Ökonomie – Maßnahmen für eine wissenschaftlich begründete, patientenzentrierte und ressourcenbewusste Versorgung. Berlin, Dezember 2018.
- Lühnen J, Mühlhauser I, Steckelberg A (2018) The quality of informed consent forms - a systematic review and critical analysis. Dtsch Arztebl Int 115: 377–383
Original-Stellungnahme: Evidenzbasierte Medizin und Daseinsfürsorge statt erlösgesteuerter Gefährdung des Patientenwohls!
Quelle: Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin. Pressemitteilung vom 27.02.2019
Lesen Sie hierzu auch:
Heindl I. Krankheit unser höchstes Gut. In: Hartwig E, Gonzalez JJ (Hg). Zielverführung – Wer für alles eine Lösung weiß, hat die Probleme nicht verstanden. Altan Verlag, München (2017)