© skodonnell/iStock/Getty Images Plus
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Leserreaktionen: Leserbrief zum Special Welternährung

Wie beeinflusst unser Ernährungsweise und die Art der Lebensmittelproduktion unsere Gesundheit, das Weltklima und nicht zuletzt auch die durch politische Krisen ausgelöste Migration? Zum Special Welternährung in der Juli-Ausgabe der ERNÄHRUNGS UMSCHAU haben uns Leserzuschriften erreicht; einen geben wir nachstehend in voller Länge wieder.

Planetare Belastungsgrenzen wichtiges Kriterium für das Nahrungssystem

Zur Kurzfassung des EAT Lancet Reports über „Healthy diets from sustainable food systems – Gesunde Ernährung aus nachhaltiger Nahrungsbereitstellung“ in Heft 7 der ERNÄHRUNGS UMSCHAU, S. 408–424, möchte ich als langjähriger Verantwortlicher für das Modul „Food Safety and Quality Chains“ des postgradualen Studienganges „Environmental Protection and Agricultural Food Production – EnviroFood“an der Universität Hohenheim einige Anmerkungen ergänzen. Ein sehr wichtiges einführendes Kapitel der auf insgesamt 60 Stunden angelegten Vorlesung behandelt „Food Security – Ernährungssicherung/-vorsorge“. Bekanntlich zählt diese zu den Aufgaben jedes geordneten Staates.

Bedeutung des Grünlands berücksichtigen

Die aufgezeigten globalen Grenzen für den Umfang nutzbaren Ackerlandes, der Wasservorräte für die Bewässerung, des Stickstoff- sowie Phosphoreintrages (in der Abb. in der ERNÄHRUNGS UMSCHAU, S. 408 wurde aus wikimedia „biochemical flow“ übernommen anstatt „biogeochemical flow“ in der Originalarbeit) und eines ökologisch „verkraftbaren“ Biodiversitäts- sprich Artenverlustes (Ernährungs Umschau S. M420 links oben bis Mitte [1], im Originalbericht [2] S. 452, Tab. 2) sind nachvollziehbar und sollen nicht näher erörtert werden. Das betrifft ebenfalls den agrarischen Treibhausgas-Ausstoß, der von derzeit jährlich 5 Mrd. Tonnen CO2-Äqivalenten bis zur CO2-Neutralität dekarbonisiert werden soll. In diesem Zusammenhang sei an die Photosynthese-Leistung der Agrarflächen, also an die Bildung von Kohlenstoffverbindungen durch die Nutzpflanzen, erinnert. Als CO2-Senke fungiert aber nicht nur das Ackerland im zitierten Umfang von 13 Mio. km2 (=1,3 Mrd. ha entsprechend 1700 m2 je aktuellem Erdenbewohner), sondern ebenfalls das in dem Bericht weitgehend negierte Grasland, mit 33 Mio. km2 [3]. Wiesen und Weiden bedeuten Rinder, Schafe, Ziegen und weitere Wiederkäuer für Milch und Fleisch, aber auch Ausstoß vor allem des klimarelevanten Methans. Hier ist ein wirtschaftlicher und umweltverträglicher Viehbesatz im Verhältnis zum Pflanzenaufwuchs das Credo. Umweltverträglich meint den Schutz der indigenen Fauna und Flora, eingeschlossen ein Gleichgewicht zwischen CO2-Verbrauch des Graslandes und Freisetzung von Gasen mit Klimarelevanz durch die Weidetiere.

Weltbevölkerung entscheidende Stellgröße

Eine entscheidende Stellgröße für die pro Kopf und Zeiteinheit zur Verfügung stehenden Agrargüter/Lebensmittel ist nach wie vor der Umfang der Bevölkerung. Die o. g. und mehrfach in dem Papier für 2050 zitierten 10 Mrd. Erdbewohner sind realistisch, dies unter Fortschreibung der gegenwärtigen Rate von gut 2,4 geborenen Kindern je Frau [4]. Nachhaltig, weil langfristig (unter Vernachlässigung der steigenden Lebenserwartung) Konstanz der der Bevölkerungszahl bedingend, kann aber nur eine Geburtenrate in der Größenordnung von 2 sein. Dabei tritt zyklisch am Ende des Lebens der Eltern ein Kind an die Stelle der Mutter und eines an die des Vaters. Diese anzustrebende Rate der Ersetzung, engl. „replacement-level fertility“, von im statistischen Mittel 2,1 Geburten je Frau wegen des leichten Überschusses der männlichen Neugeborenen forderte bereits der Brundtland Report [5], wichtiges Dokument globaler Nachhaltigkeit aus dem Jahr 1987. Unter Berücksichtigung der infolge medizinischer Versorgung fortwährenden Steigerung der Lebenserwartung wird hier für 2095 eine Weltbevölkerung von 10,2 Mrd. projiziert, wenn bis 2025 die genannte „Ersetzungs-Geburtsrate“ erreicht wird. Würde das erst bis 2065 passieren, dann müsste der Erdball 2095 14,2 Mrd. Menschen tragen.

Geburtsüberschuss haben viele Länder in Subsahara-Afrika mit 4 und mehr geborenen Kindern pro Frau, verbunden mit dem niedrigsten Bildungsgrad besonders der Mädchen und der geringsten Kontrazeptiva-Anwendung (WRI 2013, [6]). Nach dem zitierten Report geben aber Länder wie Brasilien, Peru, der Iran, Botswana oder Vietnam Hoffnung, wo über nur wenige Jahrzehnte Geburtenüberschüsse drastisch vermindert wurden.

Planetary Health Diet

Die Notwendigkeit einer Umstellung der an gesättigten Fettsäuren, Zucker und Salz reichen „Western Diet“ zu Lasten vom Tier stammender Lebensmittel, besonders von Fleisch/-erzeugnissen und zugunsten pflanzlicher Lebensmittel ([1]Tabelle 1, [2] p.451, Table1)] steht außer Frage, sowohl für unsere Gesundheit als auch für die Einhaltung/Unterschreitung genannter „Planetarer Belastungsgrenzen“. Mittlerweile dient sogar im globalen Maßstab das Gros der Ackerfläche der Erzeugung ertragreicher Futterpflanzen, hauptsächlich Futtermais, -weizen und -gerste) oder Soja. Die Umwandlung von Futtermitteln in Milch, Fleisch und Eier ist im Vergleich zum direkten menschlichen Konsum von Pflanzennahrung ein Verlust an Nährstoffen und bei zu hoher Viehdichte ebenfalls belastend für die Umwelt durch Stickstoff- und Phosphoreinträge über den gewünschten Düngereffekt hinaus.

Ein Rückgang in der Aufnahme von Fleisch, Milch und Eiern würde für die höhere Zahl von zukünftig zu ernährenden Menschen weniger Futterfläche und mehr Feldfrüchte für den Direktkonsum bedeuten. Dabei ist in der Planetary Health Diet das Ausmaß der Reduzierung besonders beim Fleisch auf im Tagesdurchschnitt 43 g (0 bis 86 g /Tag) einschneidend. Die anzustrebende Minderung des Fleischkonsums wäre auch extremer als nach dem Eingangsstatement in der ERNÄHRUNGS UMSCHAU ([1]S. M418 letzter Satz) „…Halbierung des Verzehrs von rotem Fleisch und Zucker…“.

Tatsächlich würde die Verminderung für das Fleisch insgesamt hierzulande zwei Drittel (Bezugsbasis 43 kg/Kopf und Jahr, NVS I 2006) bis drei Viertel (Bezugsbasis 59 kg/Kopf und Jahr, Stat. Jahrbuch BMELF 2017) betragen. Für rotes Fleisch, ist die Diskrepanz noch höher, dominiert doch Fleisch und Wurst vom Schwein, mit ca. zwei Dritteln, den deutschen Fleischkonsum. Das global zugestandene Mittel von insgesamt 43 g Fleisch/-erzeugnissen/Tag entspricht dem unteren Wert der wöchentlich 300–600 g/Woche in den DGE-Empfehlungen. Ebenfalls lässt sich die Negierung jedes Butterverzehrs oder ähnlicher Milchfette, wie des indischen Ghees, schwer mit den auch kulturgeschichtlich bestimmten länder- und regionenspezifischen Ernährungsweisen verbinden. Andererseits wird nach guter wissenschaftlicher Praxis in dem ausführlichen Bericht auf Seite 453 die Unsicherheit in bestimmten Einschätzungen angesprochen mit der Notwendigkeit der Anpassung an die vielen Ernährungsmuster in der Welt, nichtsdestotrotz aber auch ihrer weiteren Harmonisierung.

Im Vergleich mit der Planetary Health Diet als Referenz wird in dem ausführlichen Report [2] auf Seite 473 (Abb. 6) ebenfalls das Szenarium einer Fleischaufnahme von knapp 90 g/Tag behandelt (gegenwärtiger Stand in den OECD-Ländern). Hiermit würden für 2050 und bei 10 Mrd. Erdbewohner alle genannten planetaren Belastungsgrenzen überschritten. Gewisse Verminderungen der Belastungen brächten eine verbesserte Agrarproduktion und die Reduzierung der Lebensmittelabfälle. Wirkliche Entlastung würde aber nur der Übergang zur „Planetary Health Diet“ bringen unter Verstärkung der Vorteile durch fischreichere (pescetarian diet), vegetarische oder vegane Nahrung.

 

Transformation oder Transition?

Anstelle der von der Kommission mehrfach beschworenen „Great Transformation“ (der Ernährungsweise) wäre aus meiner Sicht der Begriff „Übergang“, engl. „Transition“, vorzuziehen. „Great Transformation“ impliziert Zwang und Gesetze, von denen Wohlfahrtssysteme auf Basis freiheitlicher sozialer Marktwirtschaft nicht ein Zuviel vertragen. In dem Zusammenhang können auch nicht China und Vietnam mit ihren totalitären Regimes, als Beispiele für gelungene Transformationen herhalten ([1] Seite M419), zumal gerade dort in kurzer Zeit Produktion und Konsum von Fleisch drastisch angestiegen sind.

 

Geschichte der Nahrungsmittelerzeugung in Europa nicht ignorieren!

Der ausführliche Bericht [2] nimmt auf S. 476, besonders in Tabelle 5, Bezug auf die jüngerer Vergangenheit zwischen 1920 und 1945 mit den dokumentierten Hungersnöten im Gefolge der kommunistischen Zwangskollektivierung mit Vertreibung der Großbauern in der Sowjetunion 1932/1933, oder im indischen Bengalen 1943 noch während der britischen Kolonialherrschaft. Diese schlimmen Erfahrungen befeuerten nationale und internationale Aktionen und mündeten schließlich in der Gründung der WHO sowie FAO als UN-Teilorganisationen 1945.

Ungeachtet der in dem Bericht beschworenen neueren Nahrungshilfe an globalen Brennpunkten, koordiniert durch genannte Organisationen, beginnt Ernährungssicherung in Mittel- und Westeuropa viel früher, nämlich bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jh. mit der Steigerung der Erträge besonders vom Acker und setzt sich dann im 20. Jh. mit weiteren Umwälzungen fort. Hierfür stehen Namen wie Justus von Liebig, 1803–1873 (mit der „Erfindung“ der wissenschaftlichen Pflanzenernährung/Düngung als Ersetzung der dem Boden mit dem Erntegut entzogenen Nährstoffe) oder Haber und Bosch mit der chemisch-technischen Umwandlung von Luftstickstoff in Ammoniak bzw. Stickstoffdünger zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts [8]. Ein weiterer großer agrarischer Erfolg ist mit dem Namen Norman Borlaug ist verbunden und der Züchtung trockenresistenter ertragreicherer Zwergweizensorten als Ausgangspunkt der Grünen Revolution mit Verdoppelung der Getreideerträge und Besiegung des Hungers in Mexiko, Indien oder Pakistan in den 1970er/1980er Jahren (Friedensnobelpreis für N.B. 1970).

 

Schlussbemerkung

Die vorstehenden Anmerkungen basieren auf den beiden ersten Unterkapiteln des o.g. Vorlesungsteils „Ernährungssicherung“ (1) „Bevölkerung, Fläche und Erträge global“ und (2) „All we come from developing countries“ (Wir kommen alle aus Entwicklungsländern – Landwirtschaft und Ernährung in der Europäischen Geschichte). Dabei wird die Entwicklung und das Funktionieren der Agrar- und Ernährungswirtschaft hierzulande und in der EU beschrieben, mit allen Vor- und Nachteilen. Spezialisierte, aber auch „all-round“-Betriebe mit hohen Erträgen bei hohen Sicherheits- und Qualitätsstandards auch im Umweltbezug prägen unsere Landwirtschaft und können als Modell für Länder/Regionen mit niedrigerem Niveau agrarischer Produktion und Lebensmittelversorgung gelten. Der Erfolg der Vorlesung vor einer internationalen Hörerschaft nun bereits in ihrem sechzehnten Jahr kann als Beleg für das soeben Festgestellte gelten.

 

Literatur

  1. Ohne Autor (2019) EAT-Lancet-Report: Strategische Ansätze zur Umstellung des weltweiten Ernährungssektors. Ernährungs Umschau 66(7) M416–M421
  2. Willet W, Rockström J, Loken B et al. (2019) Food in the Anthropocene: the EAT–Lancet Commission on healthy diets from sustainable food systems. URL: www.thelancet.com/action/showPdf?pii=S0140-6736%2818%2931788-4 Zugriff 22.8.2019
  3. FAOSTAT (2016) URL: www.fao.org/faostat/en/#data/RL, Abruf unter: Land Use, permanent meadows & pastures, natural growing, World, 2016 Zugriff 22.8.2019
  4. Liste der Länder nach Geburtenrate URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_Geburtenrate) Zugriff 22.8.2019
  5. Our Common Future, Chapter 4: Population and Human Resources. 4.II The population perspective. 4.II.1. Growth in numbers. See page 86 in URL: http://lionelingram.com/560_Our%20Common%20Future_%20Report%20of%20the%20World%20Commission%20on%20Environment%20and%20Development.pdf Zugriff 22.8.2019
  6. Searchinger T. et al. (2013) Achieving Replacement Level Fertility.” Working Paper, Installment 3 of Creating a Sustainable Food Future. Washington, DC: WRI, World Resources Institute. URL: www.worldresourcesreport.org. bzw. https://wriorg.s3.amazonaws.com/s3fs-public/achieving_replacement_level_fertility_0.pdf). Zugriff 22.8.2019
  7. Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. (2019) Vollwertig essen und trinken nach den 10 Regeln der DGE URL: www.dge.de/ernaehrungspraxis/vollwertige-ernaehrung/10-regeln-der-dge Zugriff 22.8.2019
  8. Crawford J (2017) Turning air into bread URL: https://rootsofprogress.org/turning-air-into-bread Zugriff 22.8.2019
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