In der Diskussion um pflanzenbasierte Ernährung ist Sachkenntnis gefragt.
In der Diskussion um pflanzenbasierte Ernährung ist Sachkenntnis gefragt. Grafik: FreeSoulProduction/iStock/GettyImagesPlus

Ärzteblatt-Beitrag zu pflanzenbasierter Ernährungsweise: Geht es um Evidenz oder um Arroganz?

In der Ausgabe vom 6. Juli 2020 erschien im Deutschen Ärzteblatt (DÄB) ein Beitrag mit dem Titel: Fleischfrei gesund und klimafreundlich essen – die Evidenz fehlt. Der Beitrag gibt vor, die Evidenz- und Interessenlage der Debatte um pflanzenbasierte Ernährung kritisch zu beleuchten – kritisch zu sehen ist bestenfalls die Argumentationsweise des Autors.

Ein Kommentar

Vielleicht hätte man den Text, um den es hier geht, einfach im Sommerloch belassen sollen, aber da die Physicians Association for Nutrition e.V. (PAN) bereits mit einer Stellungnahme [1] reagiert haben, kann und will die ERNÄHRUNGS UMSCHAU hier nicht wegschauen.

Worum geht es?

In der Ausgabe vom 6. Juli 2020 erschien im Deutschen Ärzteblatt (DÄB) ein Beitrag mit dem Titel: Fleischfrei gesund und klimafreundlich essen – die Evidenz fehlt [2]. Der Beitrag gibt vor, die Evidenz- und Interessenlage der Debatte um pflanzenbasierte Ernährung kritisch zu beleuchten. Der Autor, Dr. med. Johannes Scholl, zeichnet als Präsident der Deutschen Akademie für Präventivmedizin, sieht dies aber nicht als Interessenkonflikt1. Das DÄB ist mit über 300 000 Exemplaren Auflage und einem 5-Jahres Impact Factor von über 5 eine angesehene und viel zitierte Fachzeitschrift – allerdings gilt der Impact Factor nur für den Internationalen Teil der Zeitschrift, in dem ausschließlich Peer-Review-Beiträge erscheinen. Der hier besprochene Beitrag erschien außerhalb der Peer-Review-Rubrik in der Sparte „Medizinreport“. Auf der Website der Deutschen Akademie für Präventivmedizin wird der Beitrag wie folgt angepriesen: zu den Hintergründen der Propaganda für die „pflanzenbasierte“ Kost.

Die PAN-Stellungnahme [1] geht detailliert auf die Argumentationsweise des Autors ein. Aus diesem Grund soll der Beitrag hier aus etwas anderer Sicht beleuchtet werden.

Fachartikel oder Kommentar – was denn nun?

Der 6 Druckseiten lange Artikel enthält am Abschluss einen als Kasten hervorgehobenen Kommentar – ebenfalls vom Autor. Nun darf und soll ein Kommentar ja Meinung enthalten, also liegt der Schluss nahe, dass der eigentliche Beitrag eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema liefert. Dies sollte am Sprachstil, einer klaren Beschreibung der Intention des Beitrages, der ausgeglichenen, nachvollziehbaren Literaturauswahl und dem erkennbaren roten Faden deutlich werden (Empfehlungen des Deutschen Ärzteblatts für sog. narrative Reviews, [3]).

Der Schollsche Beitrag versucht sich hingegen an der Form einer Enthüllungsstory. Er mäandert zwischen medizinisch-selbstgefälliger Darstellung (nur vermeintlich) aufgeklärter Patienten („Herr Doktor, ich habe mir vorgenommen mich gesünder zu ernähren…“), die alle Bemühungen um Health Literacy im Gesundheitssystem konterkariert, und suggestiven Formulierungen („scheinbar konsistenter Strauß von Argumenten“), sarkastischer Wortwahl (eine Studie verkündet eine Assoziation), um dann (die Weltverschwörung lässt grüßen!) am finanziellen Engagement von Bill Gates in Sachen Impossible Burger vorbei zu irrlichtern.

Nun ist nicht jeder Veganer gleich Dauerkunde von Fleischersatzprodukten, aber das scheint den Autor wenig zu interessieren. Mit seinem kruden argumentativen Sammelsurium beliefert er auch den nächsten gesundheits- und klimafreundlichen Grillabend mit dem ultimativen Argument gegen Fleischersatzprodukte: Enthalten diese doch „Methylzellulose, die Grundsubstanz des Tapetenkleisters“, und – wem das nicht reicht – „Rückstände von Mineralölen“2. Während in Wirklichkeit – aus Schollscher Sicht – „vielen Experten1 low carb als Meilenstein im Hinblick auf eine gesunde Ernährung gilt“.

In seinem Kommentar fragt Scholl „cui bono?“ – und liefert gleich die Antwort: Reiche Jetsetler (EAT-Foundation-Gründerin Stordalen) und globale Big Player der Agrar- und Lebensmittelwirtschaft (Danone, Nestlé, Bayer, BASF; Bill Gates war ja schon im Text erwähnt). Sehr erhellend! Mich überrascht nicht, dass Firmen dieser Größenordnung und Branchen im Zukunftsmarkt Welternährung finanziell involviert sind. Sollen Sie Kohlekraftwerke bauen?

Cui bono? – zu wessen Nutzen also schreibt Scholl seinen Text? Wie glaubhaft ist sein Wunsch, dass „der Verbraucher bereit wäre, für gutes Fleisch aus artgerechter Tierhaltung einen höheren Preis zu zahlen“, wenn er an anderer Stelle kritisiert, dass 1,5 Mrd. arme Menschen sich die „nicht eben billige“ pflanzenbasierte Ernährung nicht leisten können?

Cui bono? Das ist schwer zu beantworten, aber zu wessen Schaden, das ist offensichtlich:

  • Die verkürzende, überhebliche und mit Unterstellungen gespickte Art seiner Darstellung in einer Ärztezeitschrift untergräbt Ansätze, das Wissen um die präventive und therapeutische Relevanz von Ernährung in dieser Berufsgruppe besser zu etablieren.
  • Ernährung ist ein Lebensbereich, der sich kaum confounder-frei beforschen lässt, noch leicht für randomisierte Placebo-kontrollierte Studien mit großer Probandenzahl zugänglich ist. Nur indem der Autor diese Sachverhalte und methodischen Herausforderungen ausblendet, kann er anzweifeln, dass Ernährungsforschung und Ernährungsepidemiologie in der Lage sind, Daten mit empfehlungsrelevanter Evidenz zu liefern.
  • Dem Text fehlt jegliche lösungsorientierte Auseinandersetzung mit dem Aspekt Klimarelevanz unserer Ernährung. Dies betrifft gerade auch den Fleischverzehr.
  • Indem er alle Fürsprecher einer pflanzenbetonten Ernährung als entweder in finanziellen Interessenkonflikten Ge- und Befangene oder schlecht Informierte schildert, gleichzeitig den Spruch „Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“ (der seinerzeit von einer staatsfinanzierten Marketinggesellsaft stammte) in Erinnerung ruft, schadet er sich selbst und seiner Glaubwürdigkeit.
  • In seiner polemischen Art schadet der Beitrag der in der Tat notwendigen Auseinandersetzung um die nachvollziehbare Herleitung von Ernährungsempfehlungen [4] für die Allgemeinheit und besondere Bevölkerungsgruppen.

Als möglichen Nutzen wünsche ich mir eine selbstbewusstere Auseinandersetzung aller Disziplinen/Professionen, die ernährungsbezogene Forschung betreiben, mit der teilweise mechanistisch-reduktionistischen, leider teilweise auch ignoranten Sichtweise einiger weniger Vertreter der Medizin auf die Ernährung des Menschen.

Ein Nutzen wäre auch, wenn das Deutsche Ärzteblatt, wie in der PAN-Stellungnahme [1] angeregt, aufgrund dieser Kontroverse „eine regelmäßige, wissenschaftlich differenzierte und handlungsorientierte Aufarbeitung der Thematik“ anstoßen würde.

Dr. Udo Maid-Kohnert
Redaktionsleitung Ernährungs Umschau

1 Mit Blick auf den nicht deklarierten Interessenkonflikt des Autors ist interessant, dass einer der Vizepräsidenten der der Deutschen Akademie für Präventivmedizin, Prof. Dr. Nicolai Worm, bekannter Buchautor u. a. zur Low-Carb-Ernährung ist.

2 Dem Autor sei an dieser Stelle ein Blick auf die Zutatenliste u.a. vieler Weihnachtslebkuchen empfohlen oder auf die Website des Bundesinstituts für Risikobewertung zur Einschätzung des gesunden Fleischgrillvergnügens hinsichtlich unerwünschter Substanzen und sonstiger Gesundheitsgefahren.


Literatur

  1. Physicians Association for Nutrition: Stellungnahme zum DÄB-Artikel „Ernährung und Klima: Fleischfrei gesund und klimafreundlich essen – die Evidenz fehlt“. pan-int.org/german-stellungnahme-pan-dab-artikel/ (last accessed on 8 August 2020)
  2. Fleischfrei gesund und klimafreundlich essen – die Evidenz fehlt. Deutsches Ärzteblatt 2020; 117(27–28): A1384–9. cdn.aerzteblatt.de/pdf/117/27/a1384.pdf (last accessed on 8 August 2020)
  3. Baethge C, Goldbeck-Wood S, Mertens S: SANRA—a scale for the quality assessment of narrative review articles. Research Integrity and Peer Review 2019; 4: 5 cdn.aerzteblatt.de/download/files/2019/04/down139750858.pdf (last accessed on 8 August 2020)
  4. Schwingshackl L: Von der Evidenz zur Empfehlung. Ernährungs Umschau 2020; 67(7): S50–2.
    www.ernaehrungs-umschau.de/print-artikel/14-07-2020-von-der-evidenz-zur-empfehlung/ (last accessed on 8 August 2020)

 

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