Mehr oder weniger?! 3. BZfE-Forum im Rahmen der Bonner Ernährungstage
- 10.09.2019
- Online PLUS
- Dr. Udo Maid-Kohnert
Zucker, Fette und Salz – Wie essen wir morgen?
Mit einem kurzen Abriss zur Rolle der Ernährung im Verlauf der Menschheitsgeschichte begann die Food-Trendforscherin Mag. Hanni Rützler, Wien, den Reigen der Referate. Vermutlich war die Nahrungsauswahl in der Frühzeit durch einen „Sicherheitsgeschmack“ (süß, nicht zu bitter, nicht zu scharf) bestimmt, der half, nährstoffreiche und zugleich vermutlich ungiftige Lebensmittel zu identifizieren. In der Antike gewann dann die Ernährungsphilosophie an Bedeutung, viele Vorstellungen aus dieser Zeit wirken bis heute nach. Zunehmend bestimmten dann auch religiöse Speisevorschriften, was der Mensch wann isst – oder nicht. Mit der Epoche der Aufklärung und den sich entwickelnden naturwissenschaftlichen Disziplinen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dann das Interesse auf einzelne Bestandteile der Nahrung, die Nährstoffe gelenkt bis die relativ junge Disziplin der Ernährungswissenschaft in den 1950ern den Grundstein der heutigen Forschungsvielfalt auf dem Gebiet legte. Aktuell bestimmen neben wissenschaftlichen aber weiterhin ethisch/weltanschauliche, aber auch ökonomische Überlegungen die Debatte um „die richtige“ Ernährungsweise. Rützler macht unter den über 30 aktuellen Food-Trends als wichtige Gruppen („Cluster“) die Themen Alltagstauglichkeit, Qualität, Nachhaltigkeit, Genuss, Gesundheit, Beyond Food (Ersatz bisher gewohnter Lebensmittel) aus. Vorteil: Über diese Cluster seien einzelne Zielgruppen der Bevölkerung für Ernährungsbotschaften gut adressierbar.
Essen XXL: Isst sich Deutschland krank?
Den provokativ-plakativen Titel seines Vortrages nutzte Prof. Stefan Lorkowski, Uni Jena, zu einem kurzen Exkurs zu Mechanismen und Auswüchsen medialer Berichterstattung über Ernährung. Dennoch: Auch wenn übertriebene oder Falschmeldungen zum Thema praktisch Medienalltag sind, bleibt das Faktum, dass 20 % der weltweiten verfrühten Todesfälle durch Fehlernährung bedingt sind. Hunger und extreme Adipositas sind dabei als Todesursache nicht mit eingerechnet. Hauptursachen dieser Blanz sind eine zu hohe Energie- und Kochsalzzufuhr und eine zu geringe Ballaststoffzufuhr. Verbessern ließe sich diese Situation durch einen höheren Verzehr von Gemüse und Obst. Im Umkehrschluss prognostizieren daher Wissenschaftler im Falle des Brexits aufgrund steigender Preise für Gemüse und Obst auf der Insel bereits einen Anstieg der Todesraten [1]. Angesichts der Dimension der durch ernährungsabhängige Krankheiten verursachten menschlichen Leids und volkswirtschaftlicher Belastungen unterstrich Lorkowski die Notwendigkeit der Verhältnisprävention. Helfen könnten dabei durchaus Kennzeichnungssysteme wie der NutriScore. Aber auch Verbote, lenkende Steuern bzw. Subventionierung gesunder Lebensmittel könnten nicht länger ein Tabuthema sein. Regulatorische Maßnahmen seien wirksamer als freiwillige. Sein Fazit: Die gesunde Wahl muss auch preiswerter sein!
Literatur
1. Seferidi P, Laverty AA, Pearson-Stuttard J, et al (2019) Impacts of Brexit on fruit and vegetable intake and cardiovascular disease in England: a modelling study BMJ Open 2019;9:e026966. doi: 10.1136/bmjopen-2018-026966
Reduktionstrategie für Lebensmittel: Chancen, Möglichkeiten und Grenzen
Der Präsident des Max Rubner-Instituts, Karlsruhe (MRI), Prof. Pablo Steinberg, stellte zunächst die Grundzüge der Nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie: Weniger Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten (NRI) vor, die auf Vereinbarungen des Koalitionsvertrages von 2018 beruht. Die Initiative mit ihren zahlreichen Einzelmaßnahmen und Projekten sei jedoch nur ein Teil einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe auf dem Weg zu einer gesundheitsförderlichen Lebens- und Ernährungsweise. Steinberg warnte davor, von Kennzeichnungssystemen wie dem NutriScore zu viele Präventionseffekte zu erwarten, er stellte Beispiele für Reformulierungen vor und erläuterte lebensmitteltechnologische Limitationen, aber auch Grenzen der Marktakzeptanz. Teil der NRI ist ein laufendes Monitoring von Lebensmittelrezepturen. Viele Hersteller hätten bereits eine „stille“ (d. h. ohne Auslobung) Reformulierung ihre Produkte durchgeführt. Parallel zum Monitoring der Rezepturen wertet das MRI GfK-Daten zum Verbraucherverhalten aus, um zu überprüfen, ob es durch Reformulierung zu Verschiebungen des Kaufverhaltens kommt – die Kunden also ggf. von gesünderen Rezepturen zu anderen Produkten wechseln.
Lebensstiländerung aus Sicht der Public Health Nutrition
Anhand der Nuffield intervention ladder [2] mit den Stufen Informieren – Wahl ermöglichen – Wahl lenken durch Anreiz – Wahl lenken durch Abschreckung – Wahl einschränken – Wahl ausschließen (Verbot) – beleuchtete Prof.´in Anette Buyken, Uni Paderborn, die Wirksamkeit von Public Health Nutrition Maßnahmen zur Reduktion des Zuckerkonsums und brach die einzelnen Stufen jeweils auf konkrete Maßnahmen herunter. Dabei betonte sie den Doppelnutzen von Kennzeichnungssystemen wie dem NutriScore: zum einen unterstütze er die Verbraucher bei ihren Kaufentscheidungen, zum anderen motiviere er Hersteller zur Reformulierung, um im Anbieter-Vergleich besser dazustehen.
Literatur
2. Griffith PE, West C (2015) A balanced intervention ladder: promoting autonomy through public health action Public Health 129( 8) August 2015, 1092–1098
Die Rolle von Nudges
Dr. Kai P. Purnhagen, Uni Wageningen, NL, stellte europäische Ansätze des Nudgings zur Lebensstiländerung vor. Er unterstrich dabei die Bedeutung begleitender Forschung, um Evidenzbasierung solcher Präventionsmaßnahmen zu erreichen. Er startete mit einer Begriffsklärung: Während nudging über kleine, meist auch einfach zu verwirklichende Maßnahmen den Entscheidungskontext (die in Griffhöhe präsentierte Mineralwasserflasche oder die unten und hinten einsortierte Limonade) der Menschen verändere, erreiche ein Boost durch eine Vielzahl, teils kostenintensiver und aufwändiger Einflüsse (Bildung, Kampagnen) eine Veränderung der internen Kompetenzen und damit eine Konditionierung. Die Wirkung von Nudges setzt damit ein Beibehalten der veränderten Rahmenbedingungen voraus, während die Konditionierung durch Boost zwar schwerer zu erzielen ist, meist aber länger nachwirkt. Im Vergleich zwischen den Niederlanden und Deutschland ging Purnhagen auch auf die unterschiedliche Debattenkultur in D, GB und NL ein und betonte die Notwendigkeit der Einbeziehung von Wissenschaft, Industrie, NGOs und Politik für erfolgreiche Schritte der Verhältnisprävention.
Betriebliche Gesundheitsförderung
Ein großes Potenzial, sehr viele Menschen im Sinne einer Lebensstiländerung zu erreichen, hat die betriebliche Gesundheitsförderung. Dies machte Prof.´in Annegret Flothow, HAW Hamburg, deutlich. In Deutschland können so rund 45 Mio. Erwerbstätige aus fast allen sozialen gesellschaftlichen Gruppen erreicht werden. Flothow stellte die rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen sowie erfolgreiche Beispiele vor. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels sind interessante Angebote der Gesundheitsförderung wichtige Faktoren der Mitarbeitermotivation und –bindung; die müssen um wirksam zu werden jedoch in ein Gesamtkonzept des betrieblichen Gesundheitsmanagements eingebunden und Teil der Unternehmenskultur sein. Für Ernährungsfachkräfte ist dieser Bereich ein Betätigungsfeld mit zunehmender Bedeutung.
Fazit
Runder Themenmix, gute RferentInnen – doch lässt sich das Thema Lebensstiländerung heute ohne globale Bezüge diskutieren? Lesen Sie unseren Kommentar zum BZfE-Forum.