Ein Blick in den Alltag in Deutschland: Nudging – ein Präventionsansatz auch bei Corona
- 12.06.2020
- Online PLUS
- Prof. Dr. Ulrike Pfannes
- Sibylle Adam
- Carolina Diana Rossi
Auswirkungen von Corona
Im Dezember 2019 machte China die Existenz des neuartigen Virus SARS-CoV-2 öffentlich [1, 2]. Im März 2020 wurde von der WHO die Corona-Pandemie ausgerufen [1]. Nicht erst seit diesem Zeitpunkt waren und sind Regierungen damit beschäftigt, Maßnahmen zur Krisen-Bewältigung der Corona-Infektion umzusetzen (z. B. um die Anzahl der Intensivbetten zu erhöhen etc.), aber auch Maßnahmen der Prävention zu treffen, um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen [3, 4].
In Deutschland kam es im März 2020 wg. Corona zum Shutdown, inklusive einer Kontaktsperre (z. B. Schul- und Kitaschließungen, Homeoffice, Online-Lehre in Hochschulen) sowie zu einem „Runterfahren“ der Wirtschaft. Die Devise lautete „flatten the curve“. Dazu griff der Staat u. a. tief in die (Grund-)Rechte der BürgerInnen ein, traf weitreichende Anordnungen und erlies Verbote. Nur noch einzelne (meist systemrelevante) Wirtschaftszweige konnten weiterhin – i. d. R. unter strengen Auflagen – geöffnet bleiben. Dazu gehörten und gehören z. B. auch der Lebensmitteleinzelhandel und der öffentliche Nahverkehr [3, 4].
Oberstes Ziel der Politik ist nach wie vor, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, inzwischen aber auch wieder ein langsames „Hochfahren“ der wirtschaftlichen Aktivität sicherzustellen [4]. Das gesellschaftliche Wohl (Gesundheit – Wirtschaft – Soziales) steht bei den Entscheidungen immer im Vordergrund.
Mit Beginn der Corona-Pandemie gab es relativ rigide Maßnahmen mit Verboten und Anordnungen, die der Staat z. T. auch hart kontrollierte. Die Flexibilisierung und die Lockerungen führten dazu, dass der Rahmen nur noch grob abgesteckt ist (z. B. Abstand 1,5 m und Maskenpflicht im Handel) und die Verantwortung wieder mehr bei den jeweiligen AkteurInnen vor Ort liegt: Das sind Organisationen (z. B. Gastronomie, Handel, Schulen, Kitas, Verkehrsbetriebe) und einzelne Individuen, die situativ und konstant die auferlegten Maßnahmen umsetzen müssen.
Es stellt sich also aktuell in unterschiedlichen Kontexten die Frage, wie man das individuelle Verhalten (Verhaltensprävention) und die Lebens- und Arbeitsverhältnisse (Verhältnisprävention) so beeinflussen kann, dass das Infektionsrisiko – für das Individuum und die Gesellschaft – bei Corona in Deutschland weiterhin niedrig bleibt.
Nudging während Corona
Bei der Umsetzung der geforderten Maßnahmen und Auflagen im Alltag sowie für das gesellschaftliche Leben wurden viele einzelne AkteurInnen kreativ in der Lösungsfindung: Blickt man derzeit mit der „Nudging-Brille“ auf den Alltag in Deutschland, kann man viele „Anstupser“ erkennen, die eingesetzt wurden und werden. Zur Einordnung: Nudging ist ein Begriff der Verhaltensökonomie, welcher von den US-amerikanischen Wissenschaftlern Thaler und Sunstein geprägt wurde. Nudging bedeutet, dass die Umgebung, die sogenannte Entscheidungsarchitektur, der Menschen so gestaltet wird, dass Entscheidungen in eine bestimmte (gesundheitsförderlichere) Richtung leichter fallen.
Dazu werden bestimmte „Stimuli“ gesetzt bzw. die Entscheidungsarchitektur so gestaltet, dass das wünschenswerte Verhalten (tendenziell eher unbewusst) umgesetzt wird [5]. Entscheidend dabei ist, dass die freie Wahl für das Individuum zwischen den Entscheidungen erhalten bleibt, dass man den auslösenden Anstupser auch umgehen könnte und dass das Wohl des Individuums bzw. das der Gesellschaft dabei im Blick ist.
Das Nudging-Konzept kann in verschiedenen Bereichen eingeführt werden, da dieses lediglich einen Rahmen für die Verhaltensänderung vorschlägt [6]. Wie ein Nudge letztendlich gestaltet wird ist eine Entscheidung der EntwicklerInnen der Maßnahmen, die sogenannten EntscheidungsarchitektInnen.
Der Autor Sunstein präsentierte 2014 die zehn wichtigsten Nudging-Typen, die in der Praxis und Politik umgesetzt werden können und in empirischen Untersuchungen eine Wirksamkeit aufzeigen [7] (Tabelle 1).
In ausgewählten Bereichen – insbesondere in den (sozialen) Medien und im Handel bzw. Lebensmitteleinzelhandel (LEH) – wurde eine punktuelle Analyse der Präventionsmaßnahmen, die während der Coronakrise eingesetzt wurden, unter Nudging-Gesichtspunkten vorgenommen. Man kann hier diverse Maßnahmen, die auf Nudging-Ansätzen beruhen, finden (Tabelle 2 und 3 [auf der nächsten Seite]), ohne dass diese explizit unter Nudging eingeordnet werden.
Es ist zu beobachten, dass die meisten Maßnahmen das Ziel verfolgen, der Ansteckung mit Corona präventiv zu begegnen, d. h. die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Die umgesetzten Maßnahmen sind demnach ähnlich, werden aber je nach Bereich unterschiedlich umgesetzt.
Primär geht es v. a. darum, die Abstandsregel selbst sowie die weiteren Hygieneregeln umzusetzen. Die Bevölkerung soll sensibilisiert und durch entsprechendes Nudges immer wieder an diese Maßnahmen erinnert werden.
Fazit
Die Umgebung im Alltag ist zurzeit sehr durch COVID19 geprägt. Seitens der Politik wird auch davon gesprochen, dass ein „neues Alltagsleben mit COVID19“ sich erst etablieren muss [9]. Das Leben mit dem Virus erfordert dafür jedoch bestimmte Verhaltensregeln (z. B. Abstand halten, häufiges Händewaschen etc.), die sich erst als „normal“ etablieren müssen. Aus der Verhaltenspsychologie ist bekannt, dass neue Gewohnheiten „erlernbar“ sind, d. h. durch immer wiederkehrende und wiederholte Verhaltensweisen, können diese automatisiert werden. Hier kann Nudging einen wichtigen Beitrag leisten, indem durch die „Anstupser“ z. B. immer wieder an das Händewaschen erinnert werden kann, bis es regelhaft und automatisch ausgeführt wird und damit zur (neuen) Gewohnheit geworden ist.
Im Rahmen der Coronakrise werden weiterhin Maßnahmen der Verhältnis- und Verhaltensprävention wichtig sein und bleiben, solange Medikamente und ein Impfstoff fehlen. Nudging-Maßnahmen können demnach eine hilfreiche Unterstützung zur Bewältigung der Krise sein.
Diese vorgestellten Beispiele, die als Nudges bezeichnet werden können, zeigen, wie wichtig diese schnellen und kostengünstigen Präventionsmaßnahmen sein können, um das „beste“ Verhalten für den Schutz der Gesundheit der Gesamtbevölkerung und des Individuums anzustupsen.
Literatur
1. World Health Organization (WHO): WHO erklärt COVID-19-Ausbruch zur Pandemie. www.euro.who.int/de/health-topics/health-emergencies/coronavirus-covid-19/news/news/2020/3/who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic (last accessed on 12 March 2020).
2. World Health Organization (WHO): Pandemie der Coronavirus-Krankheit (COVID-19). www.euro.who.int/de/health-topics/health-emergencies/coronavirus-covid-19/novel-coronavirus-2019-ncov (last accessed on 18 May 2020).
3. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Kontaktbeschränkungen bis zum 19. April. Startseite. www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/kontaktsperre-verlaengert-1738528 (last accessed on 4 January 2020).
4. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder. Startseite. www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/besprechung-der-bundeskanzlerin-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-1733248 (last accessed on 22 March 2020).
5. Thaler RH, Sunstein CR: Nudge: improving decisions about health, wealth, and happiness (revised & expanded edition). Penguin Books 2009.
6. Adam DS, Pfannes DU, Rossi CD: Nudging in Ernährungsberatung und Gemeinschaftsgastronomie. Ernährung im Fokus 2019; 4: 326–31.
7. Sunstein CR: Nudging: a very short guide. J Consum Policy 2014; 37: 583.
8. Thorun DC, Diels DJ, Vetter M, et al.: Nudge-Ansätze beim nachhaltigen Konsum: Ermittlung und Entwicklung von Maßnahmen zum „Anstoßen“ nachhaltiger Konsummuster. Umweltbundesamt 2017. www.umweltbundesamt.de/publikationen/nudge-ansaetze-beim-nachhaltigen-konsum-ermittlung (last accessed on 3 June 2020).
9. Bundesministerium für Gesundheit: Fragen und Antworten zum neuartigen Coronavirus. www.zusammengegencorona.de/informieren/ein-neuer-alltag/ (last accessed on 5 July 2020).