Neue Professur für Nutriinformatik: Interview Prof. Silvio Waschina Uni Kiel, Professur für Ernährung und Informatik
- 07.02.2020
- Online PLUS
- Laura Merten
Herr Professor Waschina, was verstehen Sie unter Nutriinformatik?
Prof. Dr. Silvio Waschina: In der Nutriinformatik werden mathematisch-informatische Methoden verwendet, um komplexe Forschungsfragen in den Ernährungswissenschaften zu beantworten. Zum einen geht es dabei um die Erhebung und Analyse von großskaligen Daten aus ernährungswissenschaftlichen Studien. Zum anderen ist es die Aufgabe der Nutriinformatik auf Grundlage von Daten und bisherigen Wissen, Modelle zu entwickeln, die in der Lage sind, Vorhersagen über die Reaktion des Organismus auf bestimmte Ernährung zu treffen.
Wie relevant ist die Nutriinformatik für die Forschung?
Waschina: Die Ernährungswissenschaften sind in den letzten Jahren immer Daten-reicher geworden. Vor allem auf molekularer Ebene können wir durch die rasante Entwicklung bei chemisch-analytischen und genetischen Technologien die Interaktionen des Menschen mit der Umwelt über die Ernährung immer genauer abbilden. Das umfasst u.a. die molekulare Zusammensetzung der Nahrung und die dadurch beeinflussten metabolischen Prozesse im menschlichen Organismus sowie die der Mikroorganismen im Verdauungstrakt. Die Herausforderung besteht in der Auswertung der hochdimensionalen und verschiedenen Datensätze, um aus ihnen neue molekulare Mechanismen der Interaktion zwischen Nahrung, Mikroorganismen und Mensch zu entdecken und zu verstehen.
Welche Module bieten Sie den Studenten der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel an?
Waschina: Ab dem kommenden Sommersemester biete ich ein Seminar zu Computersimulationen von komplexen Stoffwechselprozessen an. Hier werden die Studierenden lernen, welche Möglichkeiten es gibt, biochemische Prozesse in einem ernährungsrelevanten System virtuell „nachzuspielen“. In der Übung werden die Studierenden selbstständig Modelle erstellen und Simulationen am Computer durchführen – z. B. die mikrobiellen Stoffwechselprozesse bei der Herstellung von Kimchi und Joghurt oder wie bestimmte Ballaststoffe durch Mikroorganismen im Darm verstoffwechselt werden. Außerdem ist ein weiteres Modul geplant, in dem der Umgang mit öffentlich zugänglichen Online-Datenbanken und bioinformatischer Software erlernt wird.
Ihre Forschung beschäftigt sich unter anderem mit dem menschlichen Mikrobiom.
Wie genau und warum untersuchen Sie den Zusammenhang zu Ernährung?
Waschina: Das menschliche Mikrobiom des Verdauungstrakts besteht aus 500–1000 verschiedenen Bakterienarten. Zusammen besitzen sie eine Anzahl von biochemischen Fähigkeiten (Enzyme), die die des Menschen weit übersteigt. Eine Hypothese die daraus resultiert ist, dass viele Interaktionen, die der Mensch mit der Umwelt über die Nahrung eingeht, nicht direkt über die Aufnahme der Nahrungsbestandteile geschieht, sondern indirekt über Stoffwechselprodukte der Mikroorganismen.
In meiner Forschungsgruppe erstellen wir Patienten-spezifische Netzwerkmodelle u.a. auf Grundlage von Stuhlproben, aus denen bakterielle DNA isoliert und sequenziert wird. Mit diesen Modellen ist es möglich Vorhersagen darüber zu treffen, welche Moleküle zwischen dem Menschen und dem Mikrobiom ausgetauscht werden, welche Nahrungsbestandteile durch das Mikrobiom verstoffwechselt werden und welche Mikroorganismen dabei miteinander interagieren. Noch spannender wird es dann, wenn wir auf Grundlage der Modelle vorhersagen, wie das Ökosystem Darm und dessen Interaktionen mit dem Menschen durch gezielte Interventionen beeinflusst werden kann, z. B. durch eine Anpassung der Diät oder der Anwendung von pre- und probiotischen Präparaten.
Ihr Ansatz basiert auf der Analyse großer Datensätze. Im Zusammenhang mit dem Thema Datenkraken wie google, Facebook & Co. Steht der Begriff „Big Data“ auch für das Sammeln umfangreicher Daten vieler Millionen Menschen. Wie gelingt in Ihrem Forschungsansatz der Rückschluss aus der enormen Datenmenge auf das Individuum, also im Sinne der personalisierten Ernährung?
Waschina: Zum einen ist entscheidend, dass die spezifische Forschungsfrage bereits vor der Datenerhebung konkret formuliert wird. Damit wird gewährleistet, dass nur Daten erfasst werden, die für die Fragestellung auch relevant sind. In meiner Forschung geht es nicht um das Sammeln von Daten, sondern um die Entwicklung von Daten-gestützten Theorien zur Interaktion zwischen Organismus und Ernährungsumgebung. Außerdem untersuche ich die erhobenen Daten in einem systembiologischen Kontext. D. h. aus den verschiedenen Datensätzen, z. B. Mikrobiomdaten, Ernährungsdaten und Metabolomdaten, werden Netzwerke erstellt, die die Interaktionen zwischen Bestandteilen der Nahrung, Mikroorganismen und biochemischen Prozessen im Menschen widerspiegeln. Die Struktur der Netzwerke kann sich dabei zwischen den verschiedenen Individuen je nach Messwerten zu den einzelnen Netzwerkkomponenten unterscheiden. Computermodelle, die auf diese Netzwerke aufbauen, lassen somit personalisierte Vorhersagen zu dem Einfluss der Ernährung auf den jeweiligen Organismus zu.
Die Analyse der großen Datenmengen erfordert leistungsfähige Algorithmen. Wird die Ernährungstherapie der Zukunft also von High-Tech-Methoden wie Metabolomics bestimmt und nur mit Hochleistungsrechnern möglich sein, mit ähnlicher Bedeutung wie die der Labormedizin in der medizinischen Diagnostik und Therapie?
Waschina: Computer-gestützte Diagnostik spielt in der Medizin eine immer größere Rolle. Im Zusammenhang von Ernährung und verschiedenen Krankheiten werden wie gesagt auch immer mehr komplexe Datensätze erhoben. Derzeit geschieht das vor allem zu Forschungszwecken, aber mit dem Transfer der Erkenntnisse in die klinische Praxis wird die Computer-gestützte Diagnostik und Therapie auch in der Ernährungsmedizin an Bedeutung gewinnen.
An welchen Studien arbeiten Sie aktuell und was ist künftig geplant?
Waschina: Ein Forschungsschwerpunkt ist der Einfluss der Wechselwirkungen zwischen dem menschlichen Mikrobiom und der Ernährung auf das Risiko für Entzündungskrankheiten. Dazu kooperiere ich mit klinischen Forschungsgruppen in Kiel zu chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wie beispielsweise Colitis ulcerosa und Morbus Crohn. In einem weiteren Projekt und in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Lübeck untersuchen wir den Einfluss der Ernährung und der Gabe von Probiotika auf das Sepsisrisiko bei frühgeborenen Kindern. Zukünftig sollen verstärkt sogenannte untargeted Metabolomdaten in die Entwicklung von Vorhersagemodellen einfließen, weil über diese Technologie die nahrungsabhängigen Stoffwechselprozesse im Organismus sehr genau charakterisiert werden können.
Was erhoffen Sie sich von Ihren Forschungsergebnissen?
Das generelle Ziel ist es, mithilfe der systembiologischen und Daten-basierten Methoden der Nutriinformatik neue molekulare Mechanismen zu entdecken und zu verstehen, wie die Ernährung den Organismus beeinflusst. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen in erster Linie in der Ernährungsmedizin Anwendung finden. Im Zusammenhang mit dem Projekt zur Frühgeborenenmedizin verfolgen wir das Ziel, dass die Ernährung und die prophylaktische Behandlung mit Probiotika gezielt und personalisiert optimiert werden kann, um das Krankheitsrisiko für Sepsis bei den Kindern zu verringern.
Herr Professor Waschina, vielen Dank für diese Einblicke in Ihr Forschungsgebiet!
Das Interview führte Laura Merten.
Zur Person
Waschina studierte in Jena Bioinformatik, wo er anschließend auch promovierte. In seiner Doktorarbeit untersuchte er, wie Escherichia coli Bakterien die Arbeitsteilung auf Stoffwechselebene organisieren und dafür Kooperationen, sogenannte Symbiosen, bilden. Nach Kiel kam er 2016, wo er am Institut für experimentelle Medizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) arbeitete. Dort begann er auch seine Analyse des Mikrobioms.
Ein zukünftiges Forschungsfeld Waschinas ist das Mikrobiom frühgeborener Kinder. Zum Wintersemester 2019/2020 trat er seine Professur für Nutriinformatik an der Agrar- und Ernährungswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) an.
(Quelle: Christian-Alberts-Universität zu Kiel)