Editorial 12/01: Im Spannungsfeld zwischen Verhalten und Verhältnissen

 Prof. Dr. Berthold Gaßmann

Aus der Komplexität der Soziologie thematisch auf die Ernährung gerichtet, war dies der Untertitel der beachtlichen 2. Sächsischen Ernährungskonferenz der DGE, die am 8. und 9. November in Dresden stattfand. Führt man ihn auf die Frage zurück, ob das Verhalten die Verhältnisse umgestaltet oder die Verhältnisse das Verhalten ändern, wird die Grundfrage des soziologischen Denkens überhaupt gestellt.

Sie jedoch lässt sich eindeutig und zweifelsfrei nicht beantworten. Eva Barlösius hat deshalb auf der Konferenz klar gestellt: Wenn durch Essverhalten die Ernährungsverhältnisse verändert werden sollen, dann wird dies nur geschehen, wenn es mit Zielen, Absichten, Motiven, Orientierungen, Funktionen oder Sinn verbunden ist. Solche Veränderungen werden dann von "Esshandelnden" ausgehen und sich auf Bereiche der Ernährung auswirken, die als selbst zu gestaltende wahrgenommen werden.

Darüber hinaus müssen Alternativen eine Entscheidung darüber zulassen, was man wie und wann essen sollte. Tiefgreifenden Veränderungen sind allerdings nicht zu erwarten, wenn sie Bereiche betreffen, bei denen ohne großes Nachdenken oder traditionell reagiert wird. Kaum etwas hat das deutlicher gemacht als vor Jahren die Ereignisse von Tschernobyl und diesjährig die "BSE-Krise". Denn für einen grundlegenden Wandel des Verbraucherverhaltens waren die Verhältnisse selten besser. Streng genommen, sind daraus jedoch nur ein verstärktes Einklagen von Lebensmittelsicherheit und gewisse Änderungen in der Ernährungspolitik entstanden. Ein nachhaltiger Verbrauchs- und Ernährungswandel hat sich nicht vollzogen. Offensichtlich gehören das Essen und Trinken zu den konservativsten menschlichen Handlungen.

Das eigentliche Ereignis des zu Ende gehenden Jahres, das tiefgreifende Auswirkungen auf das künftige Ernährungsverhalten haben könnte, war indessen die Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Mit ihm und systematisch ermittelten Polymorphismen als Grundlagen des Erfassens und Zuordnens einer Prädisposition zum Erwerb bestimmter Krankheiten werden zweifellos einmal neue Lebensmittel und Ernährungsregime entwickelt werden.

Manfred J. Müller hat im Oktoberheft eindringlich eine heraufziehende Adipositasepidemie beschworen. Für Hannelore Daniel ist die Adipositas das Produkt einer evolutionären Genomfalle. Ein über Jahrmillionen optimierter Geno- und Phänotyp des rezenten Menschen, der aus einem nicht mehr limitierten Angebot effizient Nahrungsenergie aufnehmen und verwerten kann, hat in der evolutionsbiologisch extrem kurzen Zeit des Überflusses noch keine adäquaten Anpassungsmechanismen entwickeln können.

Zumindest kurz- und mittelfristig wird es deshalb wohl neben der etablierten "Hoch-Risiko-Strategie" auch einer neuen, sich an die gesamte Bevölkerung richtenden (politischen) "Public-Health-Strategie" bedürfen, um der zu einem "gesunden" Lebensstil häufig antagonistischen Umwelt zu begegnen. Bislang war verhaltenstherapeutischen Ansätzen jedoch meist nur ein mäßiger Erfolg beschieden. So wird am Ende die Vision einer auf das Genprofil zugeschnittenen individualisierten Ernährungsweise mit Lebensmitteln stehen, die zur Minimierung individueller Risiken optimiert sind.

Als Zwischenstufe auf dem Weg dahin, also zu einem auf persönliche Belange abgestimmten Lebensmittelangebot, werden vielfach funktionelle Lebensmittel betrachtet. Obwohl gerade in diesem Jahr ihr Marktanteil mit großem Werbeaufwand bemerkenswert angestiegen ist, basieren sie meines Erachtens noch immer auf einem Kommunikations- und keinem Produktionskonzept. Bis heute in Europa rechtlich nicht definiert, verbindet solche Erzeugnisse als gemeinsamer Nenner lediglich der Anspruch auf einen "gesundheitlichen Zusatznutzen". Dieser ist begrifflich indessen ebenso wenig bestimmt, wie die Chancen und Risiken funktioneller Lebensmittel klar bewertbar sind (vgl. Tagungsbericht, S. 508-510).

Das Anreichern von Lebens- und die Aufnahme von Nahrungsergänzungsmitteln werden häufig mit statistischen Kenngrößen des Bedarfs, der empfohlenen und realisierten Zufuhr von Nährstoffen sowie des Risikos von Erkrankungen begründet. Warum solche Bezüge oft unzulässig sind, macht eindrucksvoll der Beitrag von Werner Kübler in diesem Heft (S. 476-479) deutlich. Auf gesunde Populationen ausgerichtete profunde Empfehlungen und Referenzwerte lassen sich gewöhnlich eben sehr wohl mit einer abwechslungsreich ausgewogenen Kost umsetzen.

In einer sie längst verpflichtenden Tradition wird die Ernährungs-Umschau auch in ihrem 49. Jahrgang die Entwicklung auf dem Gebiet von Nahrung und Ernährung aufmerksam verfolgen und zu vermitteln versuchen. Dies versprechend, wünsche ich allen ihren Lesern frohe Weihnachten und ein erfolgreiches neues Jahr in Gesundheit und Frieden.

Das könnte Sie interessieren
Ashwa…was? Ashwagandha! weiter
© Olegsnow/iStock/Getty Images Plus
Der Antidepressant Food Score: Ein Instrument zur Einordnung der Dichte an Nährstoffen mit... weiter
Session des AK-Adipositas beim Adipositas-Kongress 2024 in Köln weiter
Politische Sommerreise weiter
Mangelernährung bekämpfen – eine gemeinsame Herausforderung weiter
FAQ zu den neuen lebensmittelbezogenen Ernährungsempfehlungen erweitert weiter