Leserbrief zum Special in Ausgabe 12/2010
- 08.02.2011
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- Redaktion
Liebe Redaktion,
ich habe mich schon Wochen auf das Special zu Apps gefreut, seit ich davon in der Ankündigung gelesen hatte. Leider ist meine Freude dann doch etwas verfrüht gewesen.
Ich hatte tatsächlich gehofft, mehr über die enorme Vielfalt von Apps im Ernährungsbereich zu erfahren, sei es zum Erstellen von Einkaufslisten, zu Rezeptdatenbanken, zu E-Nummern, ... eigentlich zu allen Themen und Bereichen, die auch sonst im Netz zu finden sind. Viele davon sind für kleines Geld zu haben, sehr viele sogar kostenlos, da sie von Lebensmittelherstellern gesponsert werden. Darunter sind relativ sinnfreie, wenn auch ganz witzige Apps – Gummibärchentüte im Smartphone aufreißen, Gummibärchen von einem Smartphone in das andere schütten oder möglichst schnell Gummibärchen aus der Smartphone-„Tüte“ schütteln, Süßigkeiten zum Turm stapeln (mit Essen spielt man eben doch), Eierlaufen auf einem vom Smartphone simulierten Küchenbrett, Küchenwecker eines Tütensuppenherstellers (kann eigentlich jedes Handy auch ohne App).
Für Menschen ohne Koch-Gen sind ganz praktisch Apps mit Rezepten (Smartphone schütteln, dann gibt es ein Zufallsrezept) über eine im Rezept integrierter Uhr, bis hin zu norwegischem Fisch. Andere beschreiben die zahlreichen Weine aus Südafrika und lassen einen erfahren, welcher Wein wohl gerade am besten zum Essen passt. Der Vorteil gegenüber dem „großen“ Internet zuhause: Alle diese Informationen stehen mit einer solchen App am Point of Sale zur Verfügung und fördern sicherlich den Verkauf.
Gehofft hatte ich aber auch auf kritischere Töne, z. B. zu den über 200 angebotenen BMI-Apps, deren Qualität nur als höchst unterschiedlich bezeichnet werden kann. Die eigentlich recht simple BMI-Berechnung muss natürlich in irgendeiner Weise bewertet werden und hier ist dem Unsinn Tür und Tor geöffnet. Vor allem hatte ich mir erhofft, kritische Töne über die vielen – kostenlosen – Apps zu hören, die beispielsweise von Nahrungsergänzungsmittelherstellern angeboten werden. Dort gibt es scheinbar seriöse qualitative und quantitative Ernährungserhebungen „Jetzt kann sich jeder gut versorgen“ mit umfangreichen Lebensmittel-Datenbanken (sieht aus wie der Bundeslebensmittelschlüssel – aber in welcher Version?), es werden ganze Ernährungsprotokolle angefertigt. „Jetzt hat jeder seinen kostenlosen Ernährungsberater in der Tasche“. „Erfahren Sie, wie gut Sie mit den einzelnen Nährstoffen versorgt sind und wie Sie sich besser ernähren können“. Tatsächlich erhält man am Ende, und zwar unabhängig davon wie gut oder schlecht die Ergebnisse sind, eine Produktempfehlung für die „Gut versorgt Kautablette“, „Ergänzen was fehlt – nach Erkenntnissen der Nationalen Verzehrsstudie II entwickelt“. Konkret heißt das, zweimal täglich eine Tablette mit 200 μg Folsäure, 5 μg Vitamin D3 und 3 g Ballaststoffe zu sich zu nehmen, obwohl das Protokoll sagt, dass man dann 335 % des Tagesbedarfs an Folsäure, 121 % an Vitamin D und 133 % an Ballaststoffen gedeckt habe. Die letzte Seite führt einen dann zum Shop.
Andere gehen es etwas subtiler an und bieten mit ihrer App täglich Vital-Tipps an. Und natürlich haben auch Direktvertreiber von Nahrungsergänzungsmitteln Apps im Programm – neben Facebook, You-Tube und Co. die modernste Form des Marketings. Und auch mit „wissenschaftlichen“ Zusatzstoffbewertungen wird viel Schindluder getrieben, so wie wir es schon seit Jahren von den in Kindergärten und Schulen kursierenden, angeblich von Krankenhäusern oder Instituten herausgegebenen Listen kennen – Panikmache mit großer Überzeugungskraft. Mit derartigen Problemen in Form von Verbraucheranfragen schlagen wir uns in der Praxis herum.
Dagegen sind Barcoo, CodeCheck etc. relativ harmlos – denn sie geben ja tatsächlich kaum mehr Infos als die Lebensmittelpackung selbst, die ja oft auch eine Bewertung, nämlich die der Industrie, trägt. Ganz neu übrigens ist die App eines großen Fleischproduzenten, die die Rückverfolgung von Fleisch direkt in der Supermarkttheke ermöglichen soll: „größtmögliche Transparenz bei der Herkunft Ihrer Fleischprodukte: vom Bauernhof bis zur Verkaufsstelle. Unsere lückenlose Dokumentation von Herkunft und Verarbeitung des Fleisches bietet Ihnen ein Höchstmaß an Sicherheit“.
Das mit der Umkreissuche für den günstigsten Preis einzelner Lebensmittel halte ich eher für eine männertypische Anwendung. In den engen Zeit- und Arbeitsplan zumindest von berufstätigen Frauen, die nebenbei ein „kleines, gut geführtes Familienunternehmen“ betreiben, passt ein solches Einkaufsverhalten nicht so gut hinein.
Dipl. oec. troph. Angela Clausen, Kerpen
Liebe Frau Clausen,
die Welt der Apps im Bereich Ernährung ist sehr vielseitig und wird die Welt der Ernährungsfachkräfte künftig sicher in Atem halten. Ich gebe Ihnen Recht, es gibt hilfreiche Apps, aber auch solche, die wenig fachlich fundierte Informationen enthalten oder mit Quellen arbeiten, die nichts mit wissenschaftlicher Evidenz zu tun haben. Genau diese Apps können für die Ernährungsbildung und -aufklärung aufgrund fehlender Qualität schwierig werden.
Das Ziel unseres Artikels war es, auf das Medium App aufmerksam zu machen, das zurzeit die Märkte und die Endkonsumenten erobert, denn Apps machen Konsumenten Spaß und werden als Ratgeber und Wegweiser in Ernährungsfragen akzeptiert. Spaß – ein psychologischer Effekt, der sich meiner Meinung nach auch für die Ernährungsbildung und -aufklärung nutzen ließe und dem Thema Ernährung zudem zu einem neuen Image bei den Konsumenten verhelfen kann.
Täglich kommen Tausende von Apps neu auf den Markt, ein Trend, der mit Sicherheit auch im Ernährungsbereich noch zunehmen wird. Vielleicht können Ernährungsfachkräfte und Berufs- und Fachgesellschaften künftig die Qualität einer App definieren oder durch ein Siegel Qualität kennzeichnen? Dies wäre mir ein Anliegen und für die Fachwelt vielleicht eine Anregung.
Ihre Heike Recktenwald
Chefredaktion Ernährungs Umschau
Der Redaktion liegen die Informationen und weblinks der App-Anbieter vor, auf die in diesem Leserbrief Bezug genommen wird. Aus rechtlichen Gründen wurden die Produktnennungen im Brief entfernt.
Hier lesen Sie den vollständigen Leserbrief, der in Ernährungs Umschau 02/11 auf Seite 61 angekündigt wurde.