Editorial 3/2021: Eine gesunde Politik für ein pandemisches Zeitalter

Es mag für viele eine unangenehme Wahrheit sein, aber die Studienlage ist eindeutig: Menschen mit einem ungesunden Lebensstil und einem hohen Gewicht müssen sich mehr vor dem Coronavirus SARS-CoV-2 fürchten als solche, die normalgewichtig und sportlich sind. Ein bewegungsarmer Lebensstil mit zu reichlicher und energiedichter Nahrung und Stress schwächt den Körper, z. B. durch chronische Entzündung, Tumorentstehung (=> Special ab S. M150) und Atherosklerose. Was nach vielen großen Studien nun mehr „Im Fokus“ stehen sollte: Diese Auswirkungen gelten nicht nur für die bekannten nichtübertragbaren (Zivilisations-)Krankheiten, sondern auch für übertragbare Krankheiten wie COVID-19 (=> Im Fokus ab S. M158).
Die gute Nachricht dabei: Eine gute Fürsorge für die eigene Gesundheit erhöht nicht nur vage die Aussicht auf ein gesünderes Alter in Jahrzehnten, sondern bringt schon jetzt einen direkten Vorteil gegenüber einer bedrohlichen Infektionskrankheit.

Beide – die schlechte und die gute Nachricht – bieten eine riesige Chance für die Gesundheitsförderung. Die Motivation der Menschen, den eigenen Körper pfleglicher zu behandeln, könnte angesichts der akuten individuellen Bedrohung höher sein denn je. Deswegen sollten Fachleute und Politik diese traurige Bresche nutzen, die das Virus geschlagen hat.

Die WählerInnen wissen seit einem Jahr ihre Gesundheit deutlich mehr zu schätzen, die Politik kann also auf die Wahlurnen schielend mit der Umsetzung einer umfassenden Gesundheitsoffensive starten. Ein Portfolio an Maßnahmen steht zur Verfügung, welche in ideenreichen Projekten getestet und evaluiert sind und für deren Effektivität es direkte oder indirekte Evidenz gibt1: in Lehrplänen fest integrierte Gesundheits- und Verbraucherbildung, bewegungsfördernde Kommunen durch Kooperation von Sozial-, Bau- und Gesundheitsämtern, gesundheitsfördernde Kitas, qualitätsgesicherte Schulverpflegung, Steuern auf allzu gesüßte Lebensmittel, Werbeverbote für sog. „Kinderlebensmittel“ u. v. m. Alles steht bereit für eine „nationale Dekade für Gesundheit“, die sich explizit nicht nur in Form von Verhaltensmaßnahmen an die gesünderen wohlhabenderen Milieus richtet, sondern gesundheitsfördernde Lebensräume und -bedingungen für alle schafft.

Liebe Regierende, liebe Schul- und Kitaträger, KommunalpolitikerInnen und AmtsleiterInnen: Wollen Sie sich in punkto Weitsichtigkeit allen Ernstes die sprichwörtliche Butter vom Brot nehmen lassen von Boris Johnson, der als einziger mir bekannter Regierungschef angesichts der Coronakrise eine nationale Anstrengung gegen Adipositas unternehmen wollte (auch wenn sie sich als mehr Schein als Sein entpuppt)2?

Die Menschen sind bereit, sie brauchen nur wirksame Unterstützung.

Ihre
Sabine Schmidt

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1 Philipsborn P von: Von der Ampel bis zum Stoppschild: Welche Evidenz gibt es für regulatorische Maßnahmen? Plenarvortrag zum 58. Wissenschaftlichen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, 18.02.2021.
2 Savage M: Boris Johnson’s drive to cut obesity rates ‘largely ineffective›. The Guardian, 12.12.2020 (online).



Dieses Editorial finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 3/2021 auf Seite M121.

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