Editorial 05/15: Der Duft des Frühlings
- 08.05.2015
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- Prof. Dr. Helmut F. Erbersdobler
Der Geruch ist der ursprünglichste unserer Sinne. Auch wenn der Mensch ein „Augentier“ und durch die Sprache auch stark vom Hören abhängig ist, prägt der Geruch bewusst und unbewusst unser Leben. Dies gilt für unsere Beziehungen untereinander (man kann jemanden „nicht riechen“), aber es gibt auch Einflüsse des Geruchs unserer Nahrung auf das soziale (sexuelle) Verhalten. „Ein Mädchen ging vorbei, es roch nach Sellerie – Liederlichkeit“, so dichtete Curt Tucholsky vermutlich im Frühling. Die Pheromone (Botenstoffe mit Verhaltensantwort, z. B. verschiedene Steroide) in Sellerie oder Trüffeln sind inzwischen bekannt.
Vor vielen Jahren erhielt ich ein Set mit 40 Aromen, die in Wein vorkommen, und wir testeten unsere Geruchsschärfe in vielen lustigen Sitzungen. In fast allen Fällen waren uns dabei die Frauen „über“, was besonders unter den Weinliebhabern Befremden und Enttäuschung auslöste. Im Alter nimmt der Geruchssinn ab, bei Männern stärker als bei Frauen. Ich behaupte deshalb immer, dass die Vorliebe alter Männer für Rotwein (Wilhelm Busch: „Rotwein ist für alte Knaben eine von den besten Gaben“) vor allem damit zu begründen ist, dass sie dessen doch kräftigere Aromen noch schmecken, während viele der zarten Düfte des Weißweins ihnen nicht mehr zugänglich sind. Das Hauptproblem unserer Zeit ist aber die Über-Aromatisierung. Dies gilt quantitativ und qualitativ. Es gibt Hinweise, dass unsere Geschmackswahrnehmung in den letzten Jahrzehnten unempfindlicher geworden ist. Grund ist ein gewisser Wettbewerb um den „vollen Geschmack“, der zu kräftiger Würzung greifen lässt. Wo gibt es z. B. noch den arttypischen Geruch von Erdbeeren in den vielen Zubereitungen? Auch die vielen Kochsendungen führen mit wahren Schrotschuss-Empfehlungen zum Einsatz einer Vielfalt an Gewürzen, was mich klamm heimlich an kommerzielle Interessen des Gewürzhandels denken lässt. Da werden zum Rehbraten neben den üblichen Gewürzen noch Vanille, Zimt und Schokolade zugegeben. Sicher, sind dies im gewissen Sinne auch Geschmacksverstärker, mehr aber noch verschleiern sie den Eigengeschmack des Bratens.
Wie wir aus den Beiträgen zum Special in diesem Heft ab S. M286 erfahren können, ist im Bereich der Geruchsempfindung noch vieles unbekannt und die Zukunft hält noch viele Überraschungen bereit. Dies gilt z. B. für die genauen Mechanismen und die genetische Vielfalt des Riechvermögens, die Verarbeitung der Sinnesempfindung im Gehirn oder Möglichkeiten, die Sinneseindrücke zu verstärken oder auszuschalten. Lassen Sie uns gespannt sein! Wir werden weiter berichten.
Helmut Erbersdobler
Den vollständigen Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 05/15 auf Seite M249.
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