Willkommenskultur
- 08.12.2015
- Print-Artikel
- Dr. Udo Maid-Kohnert
Nicht zuletzt seit dem Bestseller Darm mit Charme von Giulia Enders hat sich auch der Blick von medizinischen Laien auf unsere bakteriellen Darmbewohner gewandelt: Aus bestenfalls geduldeten Schmuddelkindern, die schon mal im Zuge rabiater und fragwürdiger1 Anwendungen mittels „Darmreinigung“ aus dem Haus getrieben wurden (um dann mit teuren Präparaten wieder Einlass zu erhalten), sind nun akzeptierte Mitbewohner des menschlichen Organismus geworden, die man teilweise mit eigens zugeführten Präbiotika zum Mitessen einlädt.
Bakterien haben – oder hatten? – bei vielen ein schlechtes Image. Vermutlich, weil sie mit bloßem Auge nicht zu erkennen, außerdem oft ungemein vermehrungsfreudig sind und viele von ihnen als Krankheitserreger auftreten können. Von den teilweise unaussprechlichen Namen ganz zu schweigen.
Dabei haben diese einzelligen Prokaryonten alle Achtung verdient: Viele Gruppen besiedelten bereits die Erde, als an vielzellige Lebewesen noch nicht zu denken war; die Photosynthese der Cyanobakterien war vor über 600 Mio. Jahren Grundlage unserer heutigen sauerstoffhaltigen Atmosphäre. Die biochemische Ausstattung der Bakterien ist beispiellos: Sie haben nicht nur viele Antibiotika „erfunden“, sondern mit den Restriktionsendonukleasen auch die Enzyme, ohne die moderne Gentechnik nicht denkbar wäre.
Die verschiedenen Bakteriengruppen können die unterschiedlichsten Substrate als Nahrungsquelle verwerten. Ob sauerstofffrei, schwefelhaltig oder 100 °Celsius bei einem Vielfachen des Atmosphärendrucks – die extremsten Lebensräume werden von den prokaryontischen Archaeen und Bakterien besiedelt. Hierzu gehören – neben unserer Haut – auch Bereiche unseres Darmlumens. In unserem Special-Beitrag ab Seite M704 geht Michael Blaut auf das Zusammenspiel von Ernährung und intestinaler Mikrobiota ein. Mit den zunehmenden Erkenntnissen über diese Wechselwirkungen z. B. auf Befinden, Immunsystem und Körpergewicht müssen wir praktisch im Wochentakt unsere Vorstellungen von den unbekannten Darmbewohnern revidieren. Mit teilweise noch fremdartig anmutenden Auswirkungen: Wo in der Medizin aseptische (= keimfreie) Bedingungen sonst Grundlage aller Arbeiten sind, erweist sich die Stuhltransplantation mittlerweile oft als letzte und erfolgreiche Therapieoption bei Intensivpatienten.2
Mikrobiota-Forschung liegt im Trend, auch in anderen Bereichen: Das von Weinkennern geschätzte „Terroir“, also die lage- und bodenspezifische Charakteristik bestimmter Weine wird neuerdings ebenfalls auf die jeweilige Mikrobiota des Rebstandortes zurückgeführt.3 Also folgen Sie in der Weihnachtszeit dem Trend, handeln als multikulturelles Wesen und gönnen sich und Ihren inneren Mitbewohnern etwas Gutes: mit möglichst abwechslungsreicher, gerade auch pflanzlicher Kost!
Ihr Udo Maid-Kohnert
1 O-Zitat einer Internet-Werbung: „Sie fühlen sich besser, attraktiver und leistungsfähiger – und zwar völlig gleichgültig, in welchem Bereich Ihre Gesundheitsprobleme zuvor auftraten.“
2 www.profil.at/wissenschaft/stuhltransplantation-grazer-uni-klinik-erfolge-5573860
3 Zarraonaindia I et al. (2015) The soil microbiome influences grapevine-associated microbiota. mBio, March 2015 DOI: 10.1128/mBio.02527-14
Das Editorial finden Sie auch in Ernährungs Umschau 12/15 auf Seite M673.