Editorial 03/05: Prävention von Übergewicht bei Kindern – was ist machbar?
- 09.03.2005
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- Redaktion
Übergewicht und Adipositas sind heute in den westlichen Industrienationen endemisch. In Deutschland sind zurzeit mehr als 50 % der Erwachsenen und jedes 4. bis 5. Kind übergewichtig. Da die Behandlung des Übergewichts aufwändig und auch nur begrenzt erfolgreich ist, sind nach Einschätzungen nationaler und internationaler Experten Maßnahmen zur Prävention des Übergewichts unerlässlich.
Genannt werden fiskalische Maßnahmen, die Kennzeichnung von Lebensmitteln, die Verwendung sog. „food claims“, eine Einschränkung des Marketings für energiedichte Lebensmittel, Maßnahmen der Ernährungserziehung und der Gesundheitsförderung , individuelle Beratungsangebote sowie bevölkerungsweite Strategien der Aufklärung.
Bisher liegen die umfangreichsten Erfahrungen für die Ernährungserziehung und Gesundheitsförderung an Schulen vor. Einige der genannten Maßnahmen erscheinen plausibel. Ihre Machbarkeit sowie ihre Wirksamkeit sind allerdings nicht belegt. Nach den bisherigen Erfahrungen wird ein „einfaches“ Herangehen (z. B. Maßnahmen der Aufklärung und Erziehung in Kindertagesstätten oder Schulen) der Komplexität des Problems nicht gerecht. Wesentliche Fragen sind bis heute unbeantwortet.
Wir wissen nicht, welche Ursachen für die Entwicklung von Adipositas und Übergewicht entscheidend sind und wie (weit) wir sie unter Berücksichtigung bestehender Ressourcen und Interessen mit Hilfe von Gesundheitsexperten der Industrie, von Lehrern und Eltern beeinflussen können. Letztlich bleibt zu analysieren, wie rezeptiv unsere Gesellschaft (in diesem Falle die Lehrer und Erzieher sowie Schüler und Eltern) gegenüber den Strategien ist, die beim Verkauf und Vertrieb von Lebensmitteln in kulturell gewachsene Ansichten und Verhaltensmuster eingreifen.
Minimalanforderung an ein Präventions- oder Beratungsprogramm sollte heute eine Stratifizierung der Maßnahmen im Hinblick auf Geschlecht und soziales Milieu sein. Ein nicht stratifiziertes Vorgehen verstärkt die Unterschiede zwischen sozialen Gruppen und auch den Geschlechtern. Es ist ethisch nicht zu rechtfertigen. Für alle Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung gilt, dass wir heute in einer Gesellschaft leben, die mehrheitlich ein nicht gesundes Lebensstilmuster favorisiert.
Es ist auch offensichtlich, dass verschiedene Gruppen in unserer Bevölkerung von dem Problem der Übergewichtigkeit profitieren. Dieses gilt nicht nur für die Lebensmittelindustrie, sondern auch für andere Bereiche unserer Gesellschaft, die durch Automatisierung und entsprechende Freizeitangebote einen sitzenden und inaktiven Lebensstil begünstigen. Autoindustrie und Medien sind somit ebenfalls Teil des gesellschaftlichen Problems „Übergewicht“.
Eine „aktive“ Gesellschaft würde weniger mit dem Auto fahren und nicht so oft vor dem Fernseher oder Computer sitzen. Dies kann nicht im Interesse der Autoindustrie bzw. der Medienvertreter sein. Eine Erhöhung der Lebensmittelpreise als Alternative würde andererseits auf Ablehnung der Verbraucher stoßen, die gewohnt sind, Lebensmittel zu relativ niedrigen Preisen zu erwerben.
Die Prävention von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Gesundheitsförderung bedarf somit weitergehender Maßnahmen. Das Problem Übergewicht wird nicht allein durch die Experten wie Ernährungswissenschaftler, Ärzte, Psychologen und/oder auch Sportwissenschaftler gelöst. Public Health braucht die Politik und die gesellschaftliche Diskussion.
Solange Konsum, Genuss und Bequemlichkeit einen sehr hohen Wert für die Menschen haben, werden Empfehlungen zur Mäßigung des Konsums und zu mehr Aktivität nur widerwillig gehört werden. Ein Umdenken und eine neue Wertschätzung von Gesundheit sind deshalb notwendige Voraussetzungen für die Begrenzung der Adipositasepidemie in unserer Gesellschaft.
Prof. Dr. med. Manfred J. Müller