Editorial 09/02: Eine Kalorie ist eine Kalorie

Berthold Gaßmann, Bergholz-Rehbrücke

Prof. Dr. Berthold Gaßmann

Der anstehende 200. Geburtstag von Justus von LIEBIG wird für die Ernährungswissenschaft Anlass vielfältiger Rückbesinnung sein. Auch die Ernährungs-Umschau hat eine zweiteilige wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung zum 1842 erschienenen epochalen Werk LIEBIGs "Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie " zur Publikation vorbereitet. Dies und die kritischen Auseinandersetzungen mit LIEBIGs seinerzeitigen Schlussfolgerungen für den menschlichen Stoffwechsel, insbesondere durch seinen Schüler Carl von VOIT und dessen Schüler Max RUBNER, die1885 zum Begriff der Kalorie und zum "Isodynamie-Gesetz" führten, haben die Entwicklung der Ernährungswissenschaft des 19. Jahrhunderts äußerst befruchtet.

Umso erstaunlicher ist es und lediglich mit geänderten Lebensbedingungen und gewachsenen Erkenntnissen über ernährungsabhängige oder -mitbedingte Krankheiten zu erklären, dass die zu Grunde liegende Problematik noch immer oder wieder aktuell ist. Denn der Einfluss veränderter Nährstoffrelationen auf die Bildung von körperlichen Fetten und Fettdepots sind heftig und kontrovers diskutierte Streitfragen der heutigen Ernährungspraxis. Dabei geht es nicht nur um vertrackt konträre Auffassungen über die zweckmäßige Zusammensetzung von Reduktionsdiäten, sondern auch über die zur Gesunderhaltung und zur Prävention degenerativer chronischer Erkrankungen beste Normalkost schlechthin.

Für Herausgeber und Redaktion der Ernährungs-Umschau war das Motiv genug, in diesem Heft einen Beitrag von W. JENTSCH und M. DERNO zur Diskussion zu stellen, der sich mit einem Vergleich vorzugsweise tierexperimentell ermittelter Energieansatzwerte von Kohlenhydraten und Fetten befasst. Man muss nicht auf Justus von LIEBIG zurückgreifen, um darauf zu verweisen, dass wegen der vielfachen Übereinstimmung des Intermediärstoffwechsels von Mensch und Tieren ohne Vormagen an diesen durchgeführte Untersuchungen oft aufschlussreiche Hinweise für die Humanernährung gegeben haben und nach wie vor geben können.

Von besonderer Wichtigkeit ist die Frage nach einer gesundheitsorientierten Ernährung bei der Prävention und Therapie des Metabolischen Syndroms. 80 % aller Diabetiker vom Typ 2 sind beispielsweise übergewichtig. Es ist auffallend, dass schon die 2000 ausgesprochenen Ernährungsempfehlungen der Diabetes and Nutrition Study Group of the European Association for the Study of Diabetes und des Ausschusses Ernährung der Deutschen Diabetes-Gesellschaft weniger auf die Reduktion als auf die qualitative Zusammensetzung der verzehrten Nahrungslipide Wert legen (Ernährungs-Umschau 47 (2000) 182 – 186).

Noch deutlicher kommt es im kürzlich publizierten Positionspapier der American Diabetes Association über "Evidence-Based Nutrition Principles and Recommendations for the Treatment and Prevention of Diabetes and Related Complications" zum Ausdruck (Diabetes Care 25 (2002) 50 – 60). Es kann und soll nicht verkannt werden, dass sich das Verhältnis von Fett und Kohlenhydraten auf die individuelle Energiebalance auswirkt [vgl. ASTRUP : Int. J. Obesity 25 (2001) Suppl. 1, 546 – 550 und WOLFRAM : Ernährungs- Umschau 48 (2001) 274 – 283)]. Um einen langfristigen Abbau von Übergewicht und ein dauerhaftes Halten des einen BMI von kleiner als 25 kg/m2 gewährleistenden Körpergewichts kommt man jedoch nicht herum.

Das zu erreichen, erfordert, selbst wenn die Adipositas als Produkt einer evolutionären Genomfalle gesehen wird (vgl. Ernährungs-Umschau 48 (2001) 473), ein von flexiblen, alltagstauglichen Programmen und Kontrollen zum Herausfinden einer zielgerichteten individuellen Kost getragenes "gesundes Gewichtsmanagement". Die American Dietetic Association hat das schon 1997 hervorgehoben. Dabei spielen die körperliche Aktivität, die Verringerung des Risikos psychischer Störungen, die Umgestaltung des Lebensstils und im Rahmen dessen neben der Größe der verzehrten Nahrungsportionen auch deren Energiedichte eine Rolle.

Das ist genauso richtig wie die von W. C. WILLETT im Harvard Medical School Guide to Healthy Eating von 2001 (vgl. Ernährungs-Umschau 49 (2002) 71) betonte Feststellung, dass bei einer den Energiebedarf übersteigenden Energiezufuhr eine Kalorie gleich einer Kalorie ist, gleichgültig ob sie aus Fetten, Kohlenhydraten, Eiweiß oder Alkohol stammt. Gleichsam, so WILLETT, ist ein Kuss ein Kuss und eine Rose eine Rose.

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