Rezension 02/06

Leitfaden Ernährungsmedizin

Hervorgegangen aus der Diätetik bei internistischen Erkrankungen und bei Krankheiten im Säuglings- und Kindesalter, ist die Ernährungsmedizin zu einem eigenständigen Fach geworden, das sich sowohl präventiv als auch therapeutisch allen ernährungsassoziierten, d. h. in irgendeiner Form durch die Ernährung bedingten, von ihr abhängigen oder durch sie beeinflussbaren Erkrankungen widmet.

Fehlernährung infolge Mangels wie Überflusses, Änderungen der Arbeitsbedingungen und Lebensgewohnheiten sowie Zunahme der Lebenserwartung auf der einen Seite und der enorme Gewinn an Wissen und Zugang in der Biochemie, Molekularbiologie und -genetik bis hinab in den zellulären Bereich sowie an Kenntnissen von epidemiologischen, nutridynamischen und nutrikinetischen Zusammenhängen auf der anderen haben in nur zwei Jahrzehnten in der neuen Disziplin zu einem großen Lehrgebäude geführt.

Darauf in der Alltagspraxis schnell und gezielt zurückzugreifen, ist für Kliniker gleichermaßen schwer geworden wie für Ernährungsberater, die sich nicht mit akuten Ernährungsproblemen und -situationen konfrontiert sehen. Dem gemäß wäre ein kompakter Leitfaden der Ernährungsmedizin, der eine rasche Orientierung ermöglicht, hoch willkommen. Was die 4 Herausgeber mit an Aussagekraft und Informationsdichte recht unterschiedlichen Beiträgen von 46 Autoren zusammengestellt haben, ist trotz ersichtlich angestrebter Prägnanz allerdings mehr.

Herausgekommen ist mit knapp 900 Seiten am Ende nämlich ein Kompendium der gesamten heutigen Ernährungslehre. Zwar ist es recht übersichtlich und eingängig, aber ein zum unmittelbaren Handeln behilflicher Leitfaden im Taschenformat ist es nicht.

Da zur Prävention auch die Ernährung des noch oder scheinbar noch Gesunden gehört und gleichermaßen Integration wie Interdisziplinarität als Ziele ausgewiesen sind, wird auf 181 Seiten Basiswissen der Ernährungsphysiologie, der Lebensmittelkunde, der Lebensmittelhygiene und der Lebensmitteltoxikologie voran gestellt. Ihm folgen 75 Seiten, auf denen unter „Ernährungsformen“ die Vollwert-Ernährung und alternative Kostformen sowie als „populär“ betrachtete Reduktions- und Außenseiterdiäten einschließlich „Krebsdiäten“(!) abgehandelt werden, ehe auf Seite 260 mit der Anamnese und Diagnostik zum eigentlichen medizinischen Teil übergegangen wird.

Die erfreulich weit gegliederten Ausführungen sind mäßig kritisch, meist nicht differenziert genug und häufig konjunktivisch formuliert. Algorithmisch offenbar erwartete Bewertungen sind selten eindeutig und definitiv. Warum Außenseiter- und reine Spekulationsdiäten oder die mikrobiologische Therapie so eingehend besprochen werden, wohingegen weitgehend akzeptierte Kostformen wie die mediterrane (bei bioaktiven Substanzen!) nur anekdotische Erwähnung finden, ist bei der betonten Berufung auf evidenzbasierte Medizin nicht verständlich.

Dass der erste Versuch eines solchen Buches nicht widerspruchsfrei gelingt (z. B. karzinogenes Risiko und antikanzerogene Wirkung von Carotinoiden, S. 83) und Aktualität nicht in jedem Fall gewährleistet ist (z. B. Annullierung der deutschen Dreifachregel für Nährstoffanreicherungen [S. 134] durch den EUGH oder Ernährungspyramide der DGE) kann dagegen wohl nicht erwartet werden. Bei allem schuldigen Respekt vor der Gesamtleistung: Weniger wäre mehr gewesen.

Berthold Gaßmann, Nuthetal

Koula-Jenik, H.; Kraft, M.; Miko, M.; Schulz R.-J. (Hrsg.): Leitfaden Ernährungsmedizin. 896 S. zahlreiche Tabellarien und Literaturzitate. Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag, München 2006, 49,95 €.

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