Nachschlag: Bierunselige Zeiten

Was waren das noch goldene Zeiten für das Brauereiwesen, als der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch noch bei über 140 L Bier lag und Deutschland sich auch in dieser Disziplin zur absoluten Weltspitze zählen durfte. Das lange Zeit mit Zähnen und Klauen verteidigte mittelalterliche Reinheitsgebot erlaubte ursprünglich nur Gerste, Hopfen und Wasser. Gleichzeitig schützten diese Regeln unseren Bierbinnenmarkt mit seinen reinen Export-, Pils-, Alt- und Weißbieren sowie einigen traditionell gebrauten Spezialbieren vor der erstarkenden ausländischen Konkurrenz mit mitunter bierfremden Zutaten.

Zunehmend restriktivere Promillegrenzen der Fahrtüchtigkeit, die alternde Gesellschaft, die Möglichkeiten der virtuellen Kommunikation und der Untergang der Eckkneipenkultur haben unseren Bierdurst über die Jahre um ca. 30 % deutlich abebben lassen. Besonders hart getroffen hat es einzelne Brauereien, die den Zeitgeist nicht erkannt haben und in ihrer Werbung weiterhin auf PS-strotzende Formel-1-Events setzten, statt ökologisch korrekter den Regenwald zu retten und den altehrwürdigen oder aber hippen handwerklichen Aspekt des Bierbrauens hervorzuheben.

Da kam dem brauenden Gewerbe die durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs erzwungene Aufhebung des Reinheitsgebotes gerade recht, um der zunehmenden Biermüdigkeit mit neuen Biermixmarken ungestraft begegnen zu können. Seitdem versuchen nicht nur unzählige kleine Craft-Brauereien (craft = Handwerk), sondern auch die Branchenriesen aus dem klassisch herb-schmeckenden Männergetränk in unzähligen alkoholhaltigen, -reduzierten oder -freien Varianten – diesmal aber für breitere KonsumentInnenschichten – wieder ein Trendgetränk zu formen. Und so werden Gersten-, Mais-, Reis-, Roggen- und Weizenmalz nicht nur mit Limo & Cola, sondern u. a. auch mit Erdbeeren, Himbeeren, Ingwer, Kamille, Koriander, Orangenzesten, Schokolade, Sekt und Pfirsichlikör oder Vanille flaschenfertig gemixt. Während für gesundheitsbewusste ältere BierkonsumentInnen Wellness- und Anti-Aging-Biere kreiert werden, soll der Bierkonsum der jüngeren Zielgruppe mit exotischen, an Cocktails erinnernde Guarana-Açai-Beeren-, Mango-Mojito- oder Lemon-Caipirinha-Biermischgetränken angekurbelt werden. Nicht zuletzt durch diese vielfältigen Innovationen konnte der Fall des Bierabsatzes in den letzten Jahren aufgehalten und auf etwa 100 L/Kopf und Jahr stabilisiert werden.

Und jetzt das: Nachdem sich im Winter die Après-Ski-Partys und die bayerischen Bockbierfeste als echte Virenverbreitungsschleudern herausgestellt haben, wurden auf zunächst unbestimmte Zeit alle weiteren bierseligen Volks-, Schützen-, Oktoberfeste, Biergärten und Sportevents abgesagt. Auch wenn der häusliche Bierkonsum inzwischen zugenommen hat, dürften sich in diesen bierunseligen Zeiten die dunklen Wolken über unseren feucht-fröhlichen Biergärten nicht so schnell auflösen.

Ihr Helmut Heseker



Diesen Artikel finden Sie wie auch die Vorschau auf die nächste Ausgabe in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 6/2020 auf Seite M376.

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