Editorial 07/12: Es lebe die (Ess-)Kultur

Dr. Sabine Schmidt

Seit Jahrzehnten schon wird der „Niedergang“ unserer Esskultur prophezeit. Je mehr Fast und Convenience Food gekauft und gegessen wurde, desto düsterer wurden die Voraussagungen.

Überraschenderweise dürfen wir Ihnen in diesem Heft aber ganz andere Nachrichten überbringen: Obwohl der Klassiker unter den Fast-Food-Ketten sein 50-jähriges Jubiläum hinter sich hat und die Auswahl an Tiefkühl-Pizza so groß ist wie nie zuvor, ist „Esskultur“ noch immer nicht tot, sondern ganz im Gegenteil hip! Siehe beispielsweise den „Koch-Hype“ in den Medien (s. Ernährungs Umschau 02/2009, S. 80–85) oder die Flut an Ess- und Kochseiten und -diskussionen in den verschiedenen Internet-Räumen.

Soweit ist dies vielleicht schon bekannt, aber die Voraussagen in den Special-Beiträgen dieses Heftes gehen noch weiter. Die österreichische Ernährungswissenschafterin Hanni RÜTZLER schreibt: „Dieses (neue) Ernährungskonzept (…) eröffnet dem gemeinsamen Genießen wieder längst verschlossen geglaubte Tore. Kochen wird in dem Maße auch für Frauen wieder chic wie es (…) als Unisex-Hobby nicht mehr so klar auf Rollen fixiert ist.“ (Interview ab S. 392).

Wer hätte noch vor Jahren gedacht, dass gemeinsames Einkaufen (!), Kochen und Essen nicht mehr nur den traditionsorientierten Ü50-ern wichtig ist, sondern auch jungen „Food-Posern“ (s. S. 387) „Flexitariern“ (s. S. 394) und anderen Geschöpfen der postmodernen Welt, die in sozialen Netzwerken wie „Foursquare“ Restauranttipps oder in Blogs wie bei „kuechengoetter.de“ „die besten Rezepte zwischen Himmel und Erde“ austauschen? Eine schöne neue Kochwelt also? – Wenn es doch so einfach wäre.

Erstens sind (bisher) nur Mitglieder ausgewählter sozialer Milieus beteiligt – allein schon aus Kostengründen sind z. B. Menschen in prekären finanziellen Situationen eher ausgeschlossen von den Gourmet-Fantasien der besser Gestellten. Dazu kommen leider nach wie vor sinkende Kochkompetenzen v. a. der Jüngeren. Die Esskultur ist damit von entgegengesetzten Strömungen (Pommes-Döner bis Genuss-Seminare) geprägt, nicht nur zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Milieus, sondern auch innerhalb dieser – abhängig von Wochentag, Tageszeit, Arbeitssituation etc. Sie wird, wie der Kulturwissenschaftler Daniel KOFAHL ab S. 386 berichtet – den gesellschaftlichen Entwicklungen im Allgemeinen folgend – immer komplexer.

Trotzdem bleibe ich dabei: In Sachen Esskultur führen die aktuellen Trends in eine gute Richtung. Genuss ist erlaubt und in vieler Munde. Bisher ist auch das Lesen allen Voraussagungen zum Trotz ja nicht ausgestorben – (nicht nur) Harry Potter sei Dank!
Ich hoffe, Sie teilen ein wenig diesen Optimismus, mit dem viel erreicht werden kann,

beste Grüße, (zum ersten Mal)

Ihre Sabine Schmidt

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