Nachschlag 9/2020: Weinlyrik
- 10.09.2020
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- Helmut Heseker
Goldgelb funkelt dieser typische Riesling aus Alten Reben im Glas, frisch im Auftakt mit ansprechenden Noten von Pfirsich, Apfel und Grapefruit, gepaart mit einem herrlich eleganten mineralischen Akzent vom Schiefer der steilen Hanglage, sehr präsent am Gaumen und bis ins lange Finale herrlich saftig mit gutem Körper, ein dezentes Bukett nach Limetten und eine Spur Aprikose schmeicheln der Nase, begleitet von einer frischen, spritzigen aber angenehmen Säure und einer überaus dezenten Süße, sehr elegant, finessenreich, am Gaumen mit einem harmonischen, perfekten Schmelz, mit eleganter Dichte und geschmacklicher Tiefe.“
So oder so ähnlich wurde der Weißwein aus der 12-Euro-Liga vom Sommelier bei einer Degustation vorgestellt, der jetzt dem erlauchten Kreis von WeinkennerInnen mit perfekter Temperatur von 10–12 °C im dünnwandigen Kristallglas ein einzigartiges Geschmackserlebnis verspricht.
Würden Sie bei einer Blindverkostung in dem guten Tropfen, ohne vorherige Bekanntgabe von Rebsorte, Herkunft bzw. Anbaugebiet, Winzer, Jahrgang, Bodenbeschaffenheit bzw. Terroir, Alkohol- und Restzuckergehalt z. B. auch nur annähernd die genannten Fruchtanalogien wiedererkennen und den Wein als „guten Wein“ bezeichnen?
Weinsprache ist schon eine ganz besondere Sprache. Wir beurteilen die Qualität eines Weins durch organoleptische Prüfungen mittels Auge (Farbe), Gaumen (Geschmack) und Nase (Geruch). In der Alltagssprache unterscheiden wir bei Wein aber nur die Farben weiß, rosé oder rot, für den Geschmack zwischen süß oder sauer und für den Geruch zwischen betont fruchtig oder flach.
Die professionale Weinsprache versucht einen Wein sehr viel präziser zu beschreiben, durch überaus blumige, oft lyrisch anmutende, sinnbildliche Konkretisierungen. Diese wurden lange Zeit nur von einer kleinen elitären WeinkennerInnenschaft beherrscht, sorgten allerdings beim Rest der Konsumenten nicht selten für erhebliche Irritationen. Der/die eingeschüchterte WeintrinkerIn begnügte sich lange mit der einfachen Regel „weißer Wein zu hellem Fleisch“ und „roter Wein zu dunklem Fleisch“ und war glücklich über eine gehörige Portion Restsüße.
Nicht wenige haben sich aber inzwischen sensorisch weiterentwickelt, und beherrschen zumindest ein Grund-Repertoire önologischer Fachbegriffe, die weit weniger snobistisch daherkommen. Fehlerfreie, preiswerte und auf den breiten Geschmack abgestimmte Cuvée-Weine – gern auch vom Discounter und versehen mit einfach verständlichen, kulinarischen Hinweisen („passt gut zu Fisch“) – dienen oft als Einstieg. Mit zunehmender Weinexpertise landen viele schon bald bei komplexeren Weinen, die aber auch teurer sein können (allerdings nicht müssen) und lernen mit jeder neu geöffneten Flasche dazu.
Denn jenseits aller Weinlyrik gilt: Ein Wein ist nur richtig gut, wenn er uns schmeckt, egal ob preiswert oder teuer, egal was die großen DegustatorInnen auch sagen – und das muss jeder für sich herausfinden.
Ihr Helmut Heseker
Diesen Artikel finden Sie wie auch die Vorschau auf die nächste Ausgabe in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 9/2020 auf Seite M568.
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