Editorial 01/06: Die Rückkehr der Proteine
- 11.01.2006
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Prof.Dr.Helmut ErbersdoblerDen Nahrungsproteinen ist das erste Editorial des neuen Jahres gewidmet. Sie nehmen seit langem den ersten Rang unter den Nährstoffen ein. Schon 1839 forderte Gerhard Mulder: „Die organische Substanz, welche in allen Bestandteilen des thierischen Körpers, so wie auch, wie wir bald sehen, im Pflanzenreiche vorkommt, könnte Protein von proteios, primarius, genannt werden.“
Dieses Primat, das sich u. a. auf die einzigartige Sonderstellung für den Gewebeaufbau begründet, hielt sich bis Anfang der Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Lange wurde ein Proteinmangelsyndrom als alleinige Ursache von Krankheiten wie Kwashiorkor u. a. angesehen. Später stellte man jedoch fest, dass der Bedarf an Protein bzw. Aminosäuren selbst bei Kindern wesentlich geringer ist als bei den erheblich schneller wachsenden Nutz- oder Versuchstieren.
Nach und nach wurde die Energieversorgung als prioritär für die Bekämpfung des Hungers erkannt. Was nicht heißen soll, dass die Proteine keine Rolle spielen – bei geringer Proteinzufuhr und wenn 60 % und mehr davon aus Getreide stammen, wie es in armen Regionen der Entwicklungsländer vorkommt, kann Lysin immer noch ein limitierender Faktor für die Entwicklung des Kindes sein.
Aber v. a. mit Blick auf die Situation in den Industrieländern sagte mir schon Mitte der Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts ein Experte: „Der Wert der Proteine bemisst sich nur nach der technologischen Funktionalität und den sensorischen Eigenschaften .“ Und tatsächlich übertraf die Protein- und Aminosäurenaufnahme in unseren Breiten die entsprechenden Referenzwerte immer bei weitem. Die neue Verzehrsstudie (vgl. S. 4 ff) wird dies sicher bestätigen.
In letzter Zeit wird den Proteinen im Zusammenhang mit neuen Diäten zur Gewichtsreduktion wieder mehr Bedeutung zugemessen. Fett- und proteinreiche Ernährungsformen sollen die Bewältigung des Übergewichts leichter machen als die bisher propagierte fettarme Ernährungsweise. Dass die Nahrungsproteine die Sättigung positiv beeinflussen, ist schon länger bekannt – nur kannte man den Grund dafür nicht und es gab keine spezifischen Daten aus Humanstudien. Kürzlich wurden jedoch die Ergebnisse einer interessante Studie zu dieser Frage vorgelegt [Weigle, D.S. et al., Amer J Clin Nutr 82: 41–48 (2005)].
19 Erwachsene im Alter von 41 ± 11 Jahren (BMI 26,2 ± 2,1) erhielten in relativ kurzen Perioden nacheinander Diäten mit 15 Energieprozent(En%) Protein, 35 En% Fett und 50 En% Kohlenhydraten (üblicher Proteingehalt) bzw. 30 En% Protein, 20 En% Fett und 50 En% Kohlenhydraten (proteinreiche Diät). Die Diäten wurden isokalorisch entsprechend des errechneten Bedarfs zugeteilt. Zum Abschluss wurde die proteinreiche Diät zur freien Aufnahme (ad libitum) angeboten.
Durch die proteinreiche Diät erhöhte sich das Sättigungsgefühl der Probanden deutlich, obwohl sich deren Leptinspiegel nicht änderten. Bei Ad-libitum-Aufnahme der proteinreichen Diät kam es spontan zu einer Verringerung der Energieaufnahme sowie zur Abnahme des Körpergewichts und des Körperfettgehalts, obwohl die Leptinspiegel sanken und die Ghrelinspiegel anstiegen.
Daraus wird geschlossen, dass eine Erhöhung der Proteinzufuhr bei konstanter Zufuhr an Kohlenhydraten die freiwillige Energieaufnahme vermindert, vermutlich durch Erhöhung der Leptin-Sensitivität im Gehirn. Dieser „anorektische Effekt“ der Proteine soll im Wesentlichen auch für die Gewichtsverluste verantwortlich sein, die mit Low-carb-Diäten erzielt werden.
Wenn es sich bei dieser Studie auch erst um die eine Schwalbe handelt, die ja bekanntlich noch keinen Sommer macht, so ermutigen die Befunde doch, hier u. a. auch mit langfristigen Studien weiter zu forschen. Auf jeden Fall sind die Proteine – nicht nur durch diese Studie – wieder im Gespräch, und das zu Recht. Nach den D-A-CH-Referenzwerten ist eine Proteinzufuhr bis zu 2 g pro kg Körpergewicht unschädlich, das sind bis zu 25 En%. Kann man diese Grenze ohne Gefahr höher setzen? Sicherlich spielt hier auch die Aminosäurenzusammensetzung eine Rolle, da die einzelnen Aminosäuren unterschiedliche Toxizitätsschwellen besitzen.
Vielleicht lassen sich hier sinnvoll isolierte Pflanzenproteine einsetzen, gewonnen aus Getreide, Soja und demnächst vielleicht auch Lupinen und Raps? Denn sie erhalten weniger aggressive schwefelhaltige Aminosäuren als Protein tierischen Ursprungs. Darüber hinaus ist die Proteinproduktion über Pflanzen ökologisch eher vertretbar, da die Umwandlungsverluste der tierischen Produktion entfallen. Immerhin müssen im Jahr 2050 nach Neuberechnungen zwar nicht mehr 12, aber immer noch 9 Milliarden Menschen ernährt werden.
In diesem Sinne, noch einmal ein gutes Jahr 2006!
Ihr
Helmut Erbersdobler