Editorial 03/08: Alles Multi?
- 11.03.2008
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Prof.Dr.Helmut Erbersdobler
Vor sechs Jahren schrieb ich in der Einleitung zu einem Artikel die nachstehenden Sätze: „Die Problematik einer unzureichenden Versorgung mit Nährstoffen betrifft heute nur noch einige wenige Nährstoffe oder ist auf spezielle Bereiche der Ernährung beschränkt. Auf diese Problematik sind die meisten der heute üblichen Anreicherungs- und Ergänzungsmaßnahmen weder bezüglich der Auswahl der Nährstoffe noch hinsichtlich der Dosierung abgestimmt.“1
Leider gilt dies heute noch, wie das neueste Heft der Zeitschrift Ökotest zeigt. Auch der Beitrag von H. FREISLING im vorliegenden Heft (S. 158 ff.) zeigt, dass bei der Anreicherung mit Nährstoffen manche Vitamine und Mineralstoffe überdosiert werden oder unnötig sind, während wichtige Nährstoffe wie Folsäure, Vitamin D oder Calcium unterrepräsentiert sind.
Kürzlich wurde ich um die Beurteilung eines Multivitamin-Präparats in Tablettenform gebeten, das man für Kinder teuer in der Apotheke gekauft hatte. Ich meinte, es sei ausreichend, diese Produkte – wenn überhaupt – nur jeden dritten Tag oder noch seltener zu verwenden, und gab den Rat: „Kaufe die Pillen beim Discounter, die nützen zwar auch nichts, sind aber wenigstens billiger“. Geglaubt hat man mir erst, als kürzlich das oben erwähnte Ökotest-Heft erschienen war, in dem insbesondere mit Multivitamintabletten hart ins Gericht gegangen wurde.
Diese Geschichte zeigt, wie besorgt Mütter um die „gesunde“ Ernährung ihrer Kinder wirklich sind, welche Glaubwürdigkeit heute Fachleute haben und wie bedeutsam parawissenschaftliche Institutionen (ist nicht abwertend gemeint) heute für die Bevölkerungsaufklärung geworden sind. Dazu kommt noch, dass ausgerechnet die Bevölkerungskreise, die sie am wenigsten benötigen, am häufigsten zu angereicherten Produkten oder Nährstoff-Ergänzungspräparaten greifen.
Größere Schäden durch Überdosierung sind eher nicht zu erwarten, wenn die Dosierungsempfehlungen eingehalten werden. Dazu hat der Gesetzgeber Höchstmengen unter Berücksichtigung der potenziellen Aufnahme über die natürlichen Lebensmittel festgelegt. Bei manchen Nährstoffen, z. B. bei Vitamin A, sollte man trotzdem vorsichtig sein, da hier die Toxizitätsschwelle besonders niedrig liegt. Vitamin D sollte man eher individuell verabreichen, da es hauptsächlich im Winterhalbjahr und da wiederum besonders für Ältere gebraucht wird. Für die Folsäure empfiehlt sich dagegen eher die Anreicherung (s. die Beiträge in Ernährungs Umschau Heft 6/2007 S. 336 ff. und Heft 9/2007 S. 538 ff.).
Wie man sieht, spricht eigentlich alles gegen die „Schrotschussverabreichung“ von Multivitaminen. Auf der anderen Seite ist die Akzeptanz von „Multi“ höher als bei einzelnen Wirkstoffen. Wenn man aus diesem Grunde Multipräparate akzeptiert, dann sollte man aber wenigstens die Dosierung wissenschaftlich ausrichten und die in der üblichen Nahrung ausreichend vorhandenen Wirkstoffe (z. B. Vitamin C, die meisten B-Vitamine, Magnesium) in der Menge zurücknehmen und andere (z. B. Folsäure, Calcium) erhöhen.
Aber lassen Sie sich nicht verwirren. Essen Sie vollwertig und abwechslungsreich, dann geht schon nichts schief. Wenn Ihnen dann mal ein Multivitaminsaft angeboten wird, müssen Sie ihn auch nicht „von der Tischkante stoßen“. Aber auf keinen Fall nach der Devise „viel hilft viel“ handeln! In diesem Sinne
Ihr
Helmut Erbersdobler
1In: ELMADFA I, KÖNIG J(Hrsg.). Nährstoffanreicherung von Lebensmitteln. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart, pp. 107–115 (2002)