Editorial 04/12: Just in Time?
- 11.04.2012
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- Redaktion
Prof. Dr. Helmut Erbersdobler
Herausgeber
Im vorliegenden Heft stellen wir Ihnen mit der ‚Selfish Brain Theorie‘ ein Konzept zur Entstehung und Bewertung der menschlichen Gewichtsvielfalt vor (S. 210 ff.), das wie ein Paukenschlag daherkommt.
Es räumt mit vielen Vorurteilen und Glaubenssätzen auf und bietet ein bestechendes Konzept zu Gewichtsmanagement und Gesundheitsförderung. Während bisher Überernährung und Bewegungsarmut als die Schuldigen angeprangert wurden, wird hier die Philosophie eines eigenständigen und selbstbestimmten Gehirns propagiert, das sein „Futter“ just in time anfordert. Es wird die Frage aufgeworfen, ob „Adipositas wirklich eine Krankheit ist, oder ob es stattdessen eine Gewichtsvielfalt gibt, mit Menschen der Merkmale ‚dick‘ oder ‚dünn‘, wobei unter bestimmten Umweltbedingungen die einen und unter anderen Umweltbedingungen die anderen ‚Merkmalsträger‘ im Vorteil sind“. Damit wird an einigen (heiligen) Säulen der Ernährungsmedizin gerüttelt, ob bezüglich der Theorie vom bösen Fett oder Zucker oder hinsichtlich unserer Gesundheitsvorsorge über die Ernährung.
Dieses Konzept hat m. E. noch einige Lücken und Schwachstellen. So wird das ,Dicksein‘ (noch) nicht ausreichend definiert und die Tatsache, dass Übergewicht in der heutigen Zeit Langlebigkeit fördert, sollte man (quantitativ) etwas differenzierter betrachten. Schließlich gibt es zahlreiche gesicherte Folgeeffekte der Adipositas bzw. der damit verbundenen Krankheiten. Auch die subklinischen chronischen Entzündungsprozesse und die periphere Insulinresistenz, die mit der Adipositas einhergehen, haben sicherlich einen Einfluss. ,Dick‘ bzw. ,dünn‘ – als die extremen Ausprägungen des Merkmals Körpergewicht – sind sicher auch zu grobe Einteilungskriterien und werden der genetischen Vielfalt der Menschen und den daraus resultierenden Stoffwechselbesonderheiten nicht gerecht.
Auf der anderen Seite werden z. T. sehr schlüssige Erklärungen gebracht und vieles erscheint logisch begründet, z. B. die Gedanken zum Jo-Jo-Effekt oder der Einfluss von (Zeit-)Stress auf Essverhalten und Körpergewicht. Diese und weitere Aspekte werden sicherlich Eingang in die Ernährungswissenschaft finden. Ein Perspektivwechsel könnte auch viele präventive Maßnahmen unterstützen, z. T. auch bariatrische Operationen (s. Beitrag auf S. 226 f.) – deren Zahl innerhalb von zehn Jahren weltweit um 761 % anstieg* – vermeiden helfen. Bariatrie sollte ohnehin nur für die extreme Adipositas (BMI über 40) eingesetzt werden.
Fazit: Wir müssen noch viel dazu lernen, bis wir die ganze Komplexität der Regulierung des Körpergewichts verstehen. Gerade deshalb sollten wir die Augen offen halten für Neues, wie z. B. das vorgestellte Konzept.
Es grüßt Sie herzlich
Ihr
Helmut Erbersdobler