Editorial 08/07: Alles Bio – oder was?

Prof.Dr.Helmut ErbersdoblerObwohl kein „heavy user“ von Öko-Lebensmitteln, haben mich die Themen der alternativen Ernährung schon seit den 1980er-Jahren interessiert. Die rasante Entwicklung des „Bio-Marktes“, wie sie sich jetzt darstellt , habe ich allerdings nicht vorausgeahnt.

Heute gibt es im Bio-Segment große Supermärkte, die sogar (für mein Empfinden fast schon wieder zu viele) Convenience-Produkte führen. Auch die Discounter haben den „Mehrwert“, der sich mit der Bezeichnung „Bio“ erzielen lässt, längst erkannt, was mit zum Boom beiträgt.

Ist Bio gesund? „Gesund“ wird in der Bio-Szene hauptsächlich über Schadstofffreiheit und den Verzicht auf Gentechnik definiert. Die Regeln der vollwertigen Ernährung, z. B. die Vermeidung konzentrierter, isolierter oder hoch gereinigter bzw. stark verarbeiteter Nahrung, werden aber inzwischen auch bei Bio-Lebensmitteln nicht mehr eingehalten. Man kann sich daher auch mit Bio-Produkten ungesund ernähren – im Sinne einer einseitigen oder zu reichlichen Zufuhr von Nahrung mit hoher Energiedichte. Auch die mikrobielle Sicherheit ist nicht garantiert.

Aktuell haben verschiedene Gazetten (z. B. „Stern“ Nr. 30 vom 19.7.2007, pp. 102–108 oder „Essen und Trinken“ Nr. 8/07, p. 42) die Frage aufgeworfen, ob die Empfehlung, Lebensmittel aus dem regionalen Bereich einzukaufen, noch gültig und der Transport von Bio-Lebensmitteln aus fernen Ländern mit den ökologischen Prinzipien vereinbar seien. Die Antworten der Interview-Partner zeigen unser Dilemma auf, dass hierzulande Bio-Produkte nicht mehr ausreichend und kostengünstig erzeugt werden können (s. auch die Kolumne in Heft 5/2007 der ERNÄHRUNGS UMSCHAU, pp. 260–261).

Saisonarbeiter aus Polen etc. sind nur eine Teillösung des Problems. Warum also nicht Bio-Produkte in Billiglohn-Ländern erzeugen und zu uns verschiffen? Immerhin ist dies auch ein Stück Entwicklungshilfe (vgl. o. a. Beitrag im „Stern“). Sind die Kriterien des Bio-Landbaus aber auch vor Ort kontrollierbar? Die ständigen Meldungen über Schadstoffe in konventionell erzeugtem Gemüse selbst aus (süd)europäischen Ländern lassen dies bezweifeln.

Die Hauptargumente für die Verwendung von Öko-Lebensmitteln liegen klar auf der Hand: 1. Eine große Sicherheit, dass „industrielle“ Schadstoffe nicht enthalten sind. 2. Der Tierschutzgedanke generell. 3. Ökologische Fragen des Transports, der Verpackung etc. (zur Problematik s. oben). 4. Verzicht auf Gentechnik. Besonders Punkt 4 gehört zu den stärksten Trümpfen, die den Verbraucher beeindrucken.

Dabei wäre die Gentechnik, in Einzelfällen und maßvoll eingesetzt, ein hervorragendes Mittel, schadstoffarm und schonend zu produzieren. Man denke etwa an die Krautfäule bei den Kartoffeln, die im Bio-Bereich nur durch Einsatz des bodenschädigenden Kupfers bekämpft werden kann. Aber „ein bisschen Gentechnik“ geht wohl nicht. Ein weiterer Ertragsfaktor des Bio-Landbaus ist der Stickstoff, denn davon geht auch aus dem bestens geregelten Biokreislauf immer einiges verloren.

Dies haben bereits Protagonisten der ökologischen Landwirtschaft, wie Prof. Dr. h. c. G. Fielmann erkannt, der schrieb: „Um ökologische Wirtschaftsweisen zu optimieren muss man auch Dogmen in Frage stellen[…] Warum sollte man nicht auch im ökologischen Landbau zur rechten Zeit am richtigen Ort die benötigte Stickstoffdosis zuführen, um damit Menge und Qualität des Getreides zu verbessern, ohne unnötigen Nitrataustrag zu provozieren?“ (Vortrag anlässlich der Ehrenpromotion am 9.12.2004. Schriftenreihe der Agrar- und Ernährungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Kiel, 105 (2005).

Dabei kann man schon mit kleinen zusätzlichen Dosen viel erreichen, wie unsere Studien vor Jahren ergeben haben (P. Schulze, Agr. Diss. Kiel, 1998). Vielleicht etabliert sich einmal eine neue Gruppierung, die diese Überlegungen berücksichtigt. In diesem Sinne, nutzen Sie den Sommer und essen Sie viel (Bio-)Gemüse.

Ihr

Helmut Erbersdobler

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