Editorial 9/2019: Verjüngung notwendig

Während wir auf Seite M568 das Übel der Überzuckerung aufgreifen, möchte ich an dieser Stelle einmal gegen die Überalterung polemisieren. Nicht gegen die Überalterung der Gesellschaft, sondern gegen alte Konzepte, Phrasen und Lobbystrukturen in Politik und Wirtschaft sowie gegen die Überalterung gesellschaftlicher „Selbstverständlichkeiten“.

Gegen alte Konzepte: Wenn die „sich eintrübende“ Wirtschaftslage in Deutschland derzeit PolitikerInnen reflexhaft wieder Maßnahmen zum Umweltschutz und zur Energiewende infrage stellen lässt („um keine Arbeitsplätze zu gefährden“), bleibt ausgeblendet, dass gerade die wirtschaftlich üppigen Jahre in Deutschland nicht für den Ausbau einer nachhaltigen Infrastruktur genutzt wurden.

Und wenn jetzt Deutschland in Sachen Gewässerschutz erneut wie auf einem Basar mit der EU-Kommission um jedes Fass Gülle feilscht, das man doch gerne noch auf einheimischen Äckern und Wiesen verklappen möchte1, anstatt ernsthaft Landwirtschaft und Lebensmittelerzeugung grenzübergreifend auf eine langfristig nachhaltige Produktionsweise umzusteuern, sind das alte Konzepte, die eine lebenswerte Zukunft massiv gefährden. Offensichtlich hat niemand der Verantwortlichen aus dem Debakel der deutschen Automobilindustrie gelernt. Auch über diese hat eine überalterte Politik jahrelang die schützende Hand gehalten, mit dem Erfolg, dass der Anschluss an die Welt beinahe verpasst wurde und gerade dadurch Arbeitsplätze gefährdet sind. Eine Politik mit Ein- und Weitsicht sollte daher Lebensmittelindustrie und Landwirtschaft vor dem gleichen Szenario bewahren.

Gegen alte Phrasen: Wenn sich in der aktuellen Klimadebatte um die CO2-Steuer die eine Partei als „Steuersenkungspartei“ bezeichnet, während sie die andere als „Steuererhöhungspartei“ (de)klassifiziert, frage ich: Wie platt ist das denn? Kann man mit Steuern nicht auch steuern? Also je nach gesellschaftlich wünschenswertem Zweck bestimmte Steuern höher, bestimmte dafür niedriger ansetzen? Dabei ist hier durchaus Nachdenken gefragt, wie die Debatte um den Mehrwertsteuersatz auf Fleisch (=> S. M511) zeigt, v. a. aber ein auf Nachhaltigkeit zielendes Gesamtkonzept.

Verjüngung sowohl der Konzepte als auch der MarktakteurInnen kommt derzeit von den zahlreichen Startups im Ernährungssektor (=> S. M514). Solche Neugründungen, aber auch zahlreiche Graswurzel-Initiativen auf diesem Gebiet mögen von Skeptikern als nicht marktrelevant belächelt werden, doch sie machen Hoffnung, dass gesellschaftliche „Selbstverständlichkeiten“, zu denen derzeit noch die Massentierhaltung und Lebensmittelverschwendung gehören, in Zukunft neu definiert werden. Sie liebe LeserInnen können praktisch täglich mit abstimmen und „Lobbyarbeit“ leisten: bei Ihrem Lebensmitteleinkauf.

Ihr Udo Maid-Kohnert

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1 Hier wird Sprengels/Liebigs Gesetz des Minimums – die im Mangel vorliegende Ressource begrenzt das Wachstum – ins groteske Gegenteil verkehrt: Der im Übermaß zugeführte Nährstoff maximiert den Profit. Siehe auch: www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/guellehandel-guelle-als-internationales-wirtschaftsgut/10353500-3.html?ticket=ST-12864667-Oske1hd2hY7dol2S7RKo-ap2 



Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 9/2019 auf Seite M505.

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