Editorial 9/2024: Es dämmert langsam …

In den Ernährungs-, Lebensmittel- und Agrarwissenschaften findet – ähnlich wie in der Physik, Biologie und anderen (Natur-)Wissenschaften – Innovation heute eher in den Grenzbereichen zwischen verschiedenen Disziplinen statt. Jahrzehntelang waren die Einzelwissenschaften in ihren jeweiligen Disziplinen ja sehr erfolgreich, haben dabei allerdings nur selten die möglichen Folgen ihrer Innovationen berücksichtigt. So haben z. B. seit dem Ausrufen der Grünen Revolution in den 1960er Jahren die intensive Forschung und Investitionen in die Züchtung von Hochertragssorten sowie Optimierung des Einsatzes von Mineraldünger, Pestiziden und Bewässerung die weltweite Lebensmittelproduktion enorm gesteigert und zu einer deutlichen Verbesserung der Ernährungssituation vieler Menschen geführt sowie die Mangelernährungs- und Kindersterblichkeitsraten signifikant gesenkt.

Heute zeigen sich allerdings die zahlreichen negativen gesundheitlichen Folgen und gravierenden Umweltbelastungen dieser v. a. auf Ertragssteigerung fokussierten einseitigen Forschung, die in erster Linie energiereichen, aber nährstoffarmen Lebensmitteln wie Weizen, Mais, Reis, Zucker, Soja sowie Ölpflanzen zugutekamen, nicht aber Hülsenfrüchten, Nüssen, Gemüsen oder Obst. Das globale Lebensmittelsystem in seiner derzeitigen Form wird u. a. als einer der wesentlichen Treiber der Adipositasepidemie diskutiert, wobei ein Lebensmittelsystem alle Elemente (Umwelt, Menschen, Materialien, Prozesse, Infrastrukturen, Institutionen etc.) und Aktivitäten umfasst, die sich auf die Agrarproduktion, die Verarbeitung, den Vertrieb, die Zubereitung und den Verzehr von Lebensmitteln beziehen, einschließlich der sozioökonomischen und ökologischen Aspekte.
Energiereiche Lebensmittel wurden preiswerter und verfügbarer, während sich die weltweite Lebensmittelversorgung zunehmend vereinheitlicht und zu einer Vielzahl von (hoch) verarbeiteten Produkten geführt hat. Die FAO weist schon länger auf diese systembedingten Zusammenhänge hin, verlangt eine ganzheitliche Betrachtung von Lebensmittelsystemen über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg und die Förderung einer nachhaltigeren Landwirtschaft und der Produktion gesünderer, nährstoffreicherer Lebensmittel. Inzwischen ist auch bei uns vielen Beteiligten klar, dass die multiplen Probleme wie Klimawandel, wachsende Bevölkerungszahlen und anthropogene Umweltbelastungen sowohl die globale als auch die nationale Lebensmittelproduktion vor große Herausforderungen stellen. Um den genannten Problemen und neuen Herausforderungen zu begegnen sind daher dringend neue Ansätze erforderlich.
Das vom BMBF seit 2019 finanzierte Projekt „Innovationsraum NewFoodSystems“ strebt eine Transformation unserer Ernährungs- und Lebensmittelsysteme im Schulterschluss zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft an (ab S. M521 in diesem Heft). Das Projekt hat das übergeordnete Ziel, „neue Ansätze für die Ernährung von morgen zu finden und verfolgt dabei die Mission, als kontinuierlicher Inkubator für die Exploration, Entwicklung und Evaluation neuer und neuartiger, qualitativ hochwertiger und umweltschonender Produktionssysteme für Lebens- und Futtermittel im offenen Dialog mit der Gesellschaft zu agieren“.
Dazu passt auch eine aktuelle Ausschreibung des BMBF: „Beiträge zu nachhaltigen und widerstandsfähigen Agrar- und Lebensmittelsystemen“1.

Ihr Helmut Heseker

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1 www.bmbf.de/bmbf/shareddocs/bekanntmachungen/de/2024/06/2024-06-17-Bekanntmachung-Lebensmittelsysteme.html  (last accessed on 19 August 2024)



Dieses Editorial finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 9/2024 auf Seite M489.

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