Europäischer Gesundheitsbericht 2015: Gesundheitliche und soziale Determinanten im Überblick
- 11.11.2015
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- Lisa Seibel
In der kürzlich veröffentlichten neuesten Ausgabe des Europäischen Gesundheitsberichts [1] wird die Europäische Region der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit ihren 53 Mitgliedsstaaten einer analytischen Bestandsaufnahme unterzogen. Der Report beurteilt neben der gesundheitlichen Situation auch die Fortschritte bei der Umsetzung des gesundheitspolitischen Rahmenkonzepts „Gesundheit 2020“. Ermutigende Zahlen sind bei der Senkung der Mortalität aufgrund von Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen zu verzeichnen – alarmierend hoch bleiben die Raten von Alkohol- und Tabakkonsum sowie Übergewicht und Adipositas.
Alle drei Jahre veröffentlicht das WHO-Regionalbüro für Europa seine Flaggschiff-Publikation, den Europäischen Gesundheitsbericht. Er zieht ein Resümee der bislang erzielten Fortschritte des gesundheitspolitischen Rahmenprogramms „Gesundheit 2020“. Mit diesem Konzept haben es sich die Länder der europäischen Region im Jahr 2012 zur Aufgabe gemacht, die Gesundheit und das Wohlbefinden der Bevölkerung zu verbessern, Ungleichheiten im Gesundheitsbereich abzubauen und nachhaltige, auf Chancengleichheit ausgerichtete Gesundheitssysteme zu gewährleisten. Zusätzlich verständigten sich die Mitgliedsstaaten im Jahr 2013 auf maßgebende Dachziele, die der Überwachung von „Gesundheit 2020“ dienen sollen. Neben der Senkung vorzeitiger Mortalität und einer Erhöhung der Lebenserwartung steht auch der Abbau gesundheitlicher Ungleichheiten auf der Agenda der WHO.
Europa auf Kurs – einige Zahlen trotzdem alarmierend
Laut Bericht ist die Europäische Region auf Kurs, die Ziele zur Senkung der vorzeitigen Mortalität aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes mellitus und chronischen Atemwegserkrankungen zu erreichen. Unabhängig davon bleiben die Raten von Alkohol- und Tabakkonsum sowie Übergewicht und Adipositas, den Hauptrisikofaktoren einer vorzeitigen Mortalität, alarmierend hoch. „Die Europäische Region weist von den Weltregionen den höchsten Alkohol- und Tabakkonsum auf und liegt, was Übergewicht und Adipositas betrifft, nur geringfügig hinter der Region Gesamtamerika – der WHO-Region mit der höchsten Prävalenz“, heißt es im Bericht. Somit besteht trotz ermutigender Fortschritte laut Dr. Zsuzsanna Jakob, WHO-Regionaldirektorin für Europa, ein reelles Risiko, dass diese Erfolge verloren gehen, wenn der Tabak- und Alkoholkonsum weiter auf dem gegenwärtigen Niveau bliebe.
Vorzeitige Mortalität
Die vorzeitige Mortalitätsrate bedingt durch die vier führenden NCDs (noncommunicable diseases: nicht-übertragbare Krankheiten) – Herz-Kreislauf- Erkrankungen, Krebs, Diabetes mellitus und chronische Atemwegserkrankungen – ist zwischen 1998 und 2012 von 624 auf 404 Todesfälle je 100 000 Personen gesunken. Dies entspricht laut Bericht einer jährlichen Reduktion um durchschnittlich 1,8 %. Die WHO-Experten betonen, dass über 50 % der durch die vier wichtigsten NCDs verursachten vorzeitigen Sterblichkeit auf kardiovaskuläre Erkrankungen zurückzuführen sei. Demzufolge habe der beschleunigte Rückgang kardiovaskulärer Todesfälle seit Mitte der 2000er Jahre wesentlich zum Abwärtstrend der Gesamtmortalität beigetragen.
Entfielen 1998 noch knapp über ein Drittel (37 %) als Ursache vorzeitiger Sterblichkeit auf Krebs, so stieg dieser Anteil bis 2012 kontinuierlich auf 43 % an. Chronische Atemwegserkrankungen und Diabetes mellitus machen hingegen mit insgesamt 6 % den geringsten Anteil der Todesfälle aus.
Tabakkonsum
Ein Abwärtstrend beim Tabakkonsum hat in den letzten Jahrzehnten wesentlich zur allgemeinen Verringerung der vorzeitigen Mortalität und der Erhöhung der Lebenserwartung v. a. bei Männern beigetragen. Dessen ungeachtet bleibt die Rate relativ hoch. Im Jahr 2012 rauchten laut Schätzungen der WHO rund 30 % der Europäer – bei beträchtlichen Differenzen im Ländervergleich: Mit einer Quote von fast 60 % für Männer und 20 % für Frauen wird in Russland am meisten geraucht, gefolgt von Georgien und Griechenland. Deutschland liegt mit rund 30 % im Mittelfeld. Dem Bericht zufolge sind in der europäischen Region einer von fünf vorzeitigen Todesfällen bei den 30- bis 44-Jährigen und einer von drei Todesfällen bei den 45- bis 49-Jährigen dem Tabakkonsum geschuldet.
Alkoholkonsum
Europa ist in den vergangenen Jahren mit verschiedenen Kampagnen, z. B. dem Europäischen Aktionsplan, zum Vorreiter im Kampf gegen alkoholbedingte gesundheitliche Schäden geworden. Insgesamt sank der Alkoholkonsum in den Jahren 2005–2010 um 10 %. Dennoch konsumieren die Europäer mit rund 11 Litern reinem Alkohol pro Kopf und Jahr weltweit am meisten Alkohol. Die Durchschnittsmenge variiert allerdings stark im Vergleich der Mitgliedsstaaten und reicht von 0,32 bis 14,37 Liter pro Kopf und Jahr. Am meisten getrunken wird in Weißrussland, Litauen und Tschechien. Länder wie die Türkei und Aserbaidschan zeigen sich am zurückhaltendsten. Die Deutschen liegen auch hier mit rund 11 L/Kopf im europäischen Durchschnitt.
Übergewicht und Adipositas
Übergewicht und Adipositas stellen laut WHO eine der größten Herausforderungen des öffentlichen Gesundheitswesens im 21. Jahrhundert dar. Von 2010 bis 2014 ist die Anzahl übergewichtiger und adipöser Menschen in 51 Mitgliedsstaaten, für die Daten zur Verfügung standen, gestiegen. Seit den 1980er Jahren hat sich die Prävalenz in einigen Ländern sogar verdreifacht. Die europäische Region liegt mit rund 59 % übergewichtiger Menschen nur knapp hinter der Region Gesamtamerika – der WHO-Region mit der höchsten Übergewichtsprävalenz (61 %).
Adipös sind dem Bericht zufolge 27 % aller Amerikaner und 23 % aller Europäer. Während europäische Männer häufiger an Übergewicht leiden, tritt Adipositas vorwiegend bei Frauen auf. Die Spannbreite der Übergewichtsprävalenz reicht in der europäischen Region von 45 bis 67 %, die Adipositasprävalenz liegt zwischen 14 und 30 %.
Im Ländervergleich weist Andorra den größten Anteil übergewichtiger Menschen auf, Tajikistan den geringsten. Deutschland rangiert mit 55 % übergewichtigen und 30 % adipösen Menschen im unteren Drittel. Die WHO-Experten schätzen außerdem, dass rund 20 % aller Männer und 25 % aller Frauen in der europäischen Region nicht ausreichend körperlich aktiv sind. Darüber hinaus sei die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas bei Jugendlichen ein wichtiger Indikator für die Zielquantifizierung von „Gesundheit 2020“.
Aus der Kinder- und Jugendgesundheitsstudie „Health Behaviour in School-aged Children“ (HBSC), an der 36 europäische Länder oder subnationale Regionen sowie die USA und Kanada teilnahmen, ging im Jahr 2012 hervor, dass 11–33 % aller 11-Jährigen übergewichtig oder adipös sind. Die durchschnittliche Prävalenz von Übergewicht und Adipositas betrug 23 % bei den 11-Jährigen, 19 % bei den 13-Jährigen und 16 % bei den 15-Jährigen. In allen teilnehmenden Staaten waren die Übergewichts- und Adipositasraten für Jungen oftmals wesentlich höhere als für Mädchen. Es zeigte sich außerdem, dass der Anteil 11-Jähriger, die täglich mindestens eine Stunde mittelschwer bis stark körperlich aktiv waren, bei Jungen nur zwischen 10 und 43 % und bei Mädchen zwischen 7 und 31 % lag. In der Altersklasse der 13- bis 15-Jährigen verzeichnete die HBSC sogar noch niedrigere Raten körperlicher Aktivität.
Impfung
Durchschnittlich 95 % aller Kinder waren 2012 gegen Masern und Kinderlähmung geimpft. Trotz einer historisch niedrigen Inzidenzrate in den Jahren 2007–2009 sind in der Hälfte aller Mitgliedsstaaten im Jahr 2013 Masern ausgebrochen. Die Experten betonen zudem, dass 22 Länder der europäischen Region nicht vor einem Polio-Ausbruch, dem Kinderlähmungsvirus, gefeit seien.
Externe Faktoren (Unfälle, Mord, Suizid)
Die Mortalitätsrate bedingt durch externe Faktoren und Verletzungen ist seit 2002 rückläufig, was laut Bericht u. a. auf neue Verkehrssicherheitsstrategien zurückzuführen ist. Männer sterben mit einem Anteil von 79 % häufi ger bei Verkehrsunfällen als Frauen. Insgesamt fi elen im Jahr 2010 mit 92 500 Todesfällen rund 25 % weniger Menschen Unfällen im Straßenverkehr zum Opfer als noch im Jahr 2007. Auch die durch Suizid und Selbstschädigung verursachten Mortalitätsraten zeigen einen Abwärtstrend.
Säuglingssterblichkeit und Lebenserwartung
Die Säuglingssterblichkeit reduzierte sich im regionalen Durchschnitt von 15,4 Sterbefällen pro 1 000 Lebendgeburten im Jahr 1990 auf 7 im Jahr 2010 um mehr als die Hälfte. Die Diskrepanz zwischen der Region mit der niedrigsten und der Region mit der höchsten Sterblichkeitsrate belief sich im Jahr 1990 noch auf 40 Todesfälle pro 1 000 Lebendgeburten. Bis zum Jahr 2010 hat sich diese Kluft auf rund 20 Sterbefälle verkleinert. Die durchschnittliche Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt ist in der europäischen Region von durchschnittlich 73,2 Jahren (1990) auf 76,8 Jahre (2010) kontinuierlich angestiegen. Nach wie vor beläuft sich die Spannweite zwischen den Mitgliedsstaaten mit der niedrigsten (71 Jahre) und der höchsten Lebenserwartung (82 Jahre) auf mehr als ein Jahrzehnt.
Internationaler Vergleich
Vor 15 Jahren beschlossen Vertreter der UNO, der Weltbank und der OECD die acht Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, die bis Ende 2015 erreicht werden sollten. Diese Jahrtausendziele umfassten die Hungerbekämpfung, Bildung für alle Kinder, die Gleichstellung der Geschlechter, die Verbesserung der Gesundheit von Müttern, die Bekämpfung von HIV/Aids, ökologische Nachhaltigkeit und eine Entwicklungspartnerschaft zwischen armen und reichen Ländern. Kürzlich zogen die Mitgliedsstaaten ihre abschließende Bilanz und verabschiedeten bei der UN-Vollversammlung in New York die so genannten Nachhaltigkeitsziele (SDGs: Sustainable Development Goals). Diese sollen die Millenniumsziele ablösen und sehen u. a. die Beseitigung von Hunger und extremer Armut auf der ganzen Welt bis zum Jahr 2030 vor. Einige Millenniumsziele sind laut WHO erreicht worden, darunter die Halbierung extremer Armut seit dem Jahr 2000. Die Bilanz zeigt jedoch auch ein durchwachsenes Bild: Rund die Hälfte der ehrgeizig gesteckten Ziele wurden verfehlt oder nur zum Teil erreicht. So konnte die Kindersterblichkeit nicht wie vorgesehen um zwei Drittel, sondern nur um 53 % reduziert werden. Da auch die europäische Region innerhalb von 22 Jahren die Sterblichkeitsrate von Kindern unter 5 Jahren „nur“ um 54 % reduzieren konnte, sehen sich die Vereinten Nationen und die WHO-Region mit der gleichen Problematik konfrontiert.
Literatur:
1. WHO Regional Office for Europe. The European health report 2015. Targets and beyond – reaching new frontiers in evidence. World Health Organization (WHO) (2015)
Den Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 11/15 auf Seite M622-M623.