Brainstorming in Göttingen: „Consumer Confusion“ – vom überforderten zum mündigen Verbraucher
- 12.01.2012
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- Redaktion
Viele Verbraucher in Deutschland sind
überfordert. Die Fülle des Produkt-
angebotes, die Vielzahl und die
Qualität der Botschaften machen
die Kaufentscheidung schwierig.
Bild: © Fotolia/TheGame Warum sind die Verbraucher in Deutschland beim Kauf von Lebensmitteln verwirrt oder gar überfordert und warum ist es notwendig, dass sich Ernährungsexperten künftig verstärkt mit diesem Thema beschäftigen? Welche Handlungsfelder und Strategien verschiedener Akteure (z. B. Wissenschaft, Verbraucherschutz, Politik, Zivilgesellschaft, Unternehmen) sind geeignet, um diese Verunsicherung abzubauen?
Das waren die Fragestellungen einer wissenschaftlichen Gesprächsrunde am Institut für Ernährungspsychologie in Göttingen am 12. November 2011, unter der Leitung von PD Dr. Thomas ELLROTT, der als Mitglied des Beirats des Nestlé Zukunftsforums zu diesem Treffen eingeladen hatte. In einer lebhaften Diskussion analysierten Prof. Helmut HESEKER, Paderborn, Prof. Ingrid-Ute LEONHÄUSER, Gießen, Prof. Gertrud WINKLER, München, und Heike RECKTENWALD für die Ernährungs Umschau die aktuelle Situation: Stark divergierende Interessen der Marktteilnehmer sind nach Meinung der Wissenschaftler die Ursache für die Vielzahl und Widersprüchlichkeit der Botschaften, die den Verbraucher erreichen.
Aus diesem Grunde wurde die unterschiedliche Interessenlage von Verbrauchern, Lebensmittelwirtschaft, Publikumsmedien, Politik, Non-Governmental Organizations (NGOs), Wissenschaft, aber auch der „selbst ernannten Experten“ im Rahmen der Diskussion herausgearbeitet:
Der Verbraucher hat danach das Bedürfnis, sichere Lebensmittel einzukaufen, er wünscht sich ehrliche und objektive Botschaften zu den Produkten und möchte den Herstellern gerne vertrauen. Es ist für ihn aber auch wichtig, dass Lebensmittel jederzeit und überall verfügbar sind, günstig eingekauft werden können, dabei gut schmecken und für die Gesundheit förderlich sind.
Für die Lebensmittelindustrie dominieren wirtschaftliche Vorgaben wie Gewinn und Shareholder-Value, aber auch Markenvertrauen, Kundenzufriedenheit, Kundenbindung, Image, keine Skandale sowie die Eroberung neuer Märkte (durch Innovationen). Das waren die Schlagworte für die Interessenlage, die in der Diskussion thematisiert wurden.
Auch die Politik möchte Einfluss auf den Verbraucher nehmen. Ihr liegt am Herzen, die Ernährung in Deutschland im Sinne der Nachhaltigkeit zu sichern, die Kosten ernährungsbedingter Krankheiten zu senken, den Verbraucherschutz und die Ernährungsbildung zu stärken, aber auch die Ernährungs- und Agrarwirtschaft zu fördern. Bei der Formulierung der Botschaften an die Verbraucher spielen darüber hinaus Aspekte wie die „Wiederwahl“ und das „Wohl der Partei“ eine Rolle.
Primäres Ziel der Publikumsmedien ist es nicht, wissenschaftliche Informationen neutral zu kommunizieren, sondern vor allem der gewinnbringende „Verkauf“ von Schlagzeilen und Medienkonsum per se. Hierbei wurde festgestellt, dass sich (vermeintliche) Skandale oder schlechte Nachrichten besser verkaufen lassen, weil diese Schutzreflexe aktivieren und so den Medienkonsum steigern. Dies dient über Auflagenzahl, Zuschauerquote und Seitenaufrufe im Internet in erster Linie dem wirtschaftlichen Interesse und dem Anzeigenverkauf der Medien.
NGOs weisen zwar bisweilen auf Missstände hin und vertreten die Interessen des Verbrauchers, manchmal steht aber die mediale Aufmerksamkeit (Aktivismus, Agitation) weit mehr im Vordergrund als der Nutzen für den Verbraucher. Ziel von NGOs ist auch die Einwerbung von Mitgliederbeiträgen und Fördermitteln.
So genannte „selbst ernannte Experten“ kommen in den Medien häufig zu Wort. Solche Personen sind weder Sprecher wissenschaftlicher Fachgesellschaften, noch haben sie wissenschaftliche Forschung in relevantem Umfang vorzuweisen. Für selbst ernannte Experten ist das Auftreten in Medien zumeist Selbstzweck, da sie auf diesem Wege für ihre Bücher oder andere Dienstleistungen werben können. Statt neutraler wissenschaftlicher Information stehen Eigenwerbung und Steigerung des Marktwertes im Vordergrund.
Die Notwendigkeit der Interpretation von Werbung und widersprüchlichen medialen oder politischen Botschaften von unterschiedlichen Absendern durch den Verbraucher, trägt entscheidend zur Verunsicherung bei, da vielen Verbrauchern meist die Kompetenzen fehlen, die Qualität einer medialen Botschaft adäquat beurteilen zu können. Der Verbraucher ist durch die Masse der Botschaften verwirrt (information overload) und in der Konsequenz verunsichert. Verwirrung beschreibt in der Definition der Psychologie dabei den Prozess, Verunsicherung die Konsequenz im Sinne einer psychosozialen Befindlichkeit.
Der Verbraucher meint zwar, sich an Expertenwissen zu orientieren, überblickt aber selten, dass Wissenschaftler und Fachgesellschaften im Rahmen einer Evidence-based Medicine (EBM) und Evidence-based Nutrition (EBN) zwar allein die Grundlagen für die mediale Kommunikation wissenschaflticher Erkenntnisse liefern, es aber Dritten überlassen, die wissenschaftlichen Inhalte dann für eigene Zwecke zu utilisieren. Beispiele sind die Skandalisierung „vermeintlich“ wissenschaftlicher Inhalte in den Medien oder eine Hyperinszenierung in Form von Werbung.
Die Teilnehmer der Diskussionsrunde stellten fest, dass der Verbraucher über Jahrzehnte von Medien, Politik und Wirtschaft Optimierungsstrategien für den Kauf von Produkten und Dienstleistungen (z. B. KFZ-Versicherungen, Telefonanbieter, Strom) empfohlen bekommen hat, die nicht auf die Ernährung übertragbar sind. Das „Geiz-ist-geil-Prinzip“ beispielsweise ist eindimensional und wird der Komplexität von Essen und Trinken inkl. Convenience, Gesundheit, Ressourcennutzung und Nachhaltigkeit, Tierschutz, Regionalität und fairem Handel nicht gerecht. Die Fokussierung auf eine Basisqualität und einen niedrigen Preis hat zu einem Boom des Discount-Handels geführt. Das ist allerdings keine nachhaltige Strategie im Umgang mit Lebensmitteln.
Auch Wissenschaftler und deren Fachgesellschaften haben die Möglichkeit, Beiträge zur Reduktion von Consumer Confusion zu leisten:
- Wissenschaftler und Fachgesellschaften müssen deutlich stärker in der öffentlichen Kommunikation präsent sein. Motto: „Die durch Evidencebased Medicine bzw. Nutrition erhobenen Daten für den Verbraucher umsetzbar machen.“
- Ein umfänglicher Dialog zwischen Verbrauchern und Wissenschaftlern ist notwendig, um einer kollektiven Fehlleitung des Verbrauchers durch Massen-Selbst-Kommunikation in interaktiven Webformen (Foren etc.) vorzubeugen.
- Deutungshoheit und Absenderkompetenz von Wissenschaft müssen auch in Zeiten von User Generated Content (UGC) gewahrt bleiben.
- Die Geschwindigkeit der Kommunikation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, z. B. die wissenschaftliche Bewertung von aktuellen Skandalen/Berichten/Studien, muss erheblich gesteigert werden. Ansonsten wird das Feld allein den Publikumsmedien, selbst ernannten Experten, NGOs oder den Verbrauchern selbst (UGC) überlassen. Die Kommunikation von Forschungsergebnissen wird von Wissenschaftlern noch zu selten als eigene Aufgabe gesehen.
Für eine zeitnahe und qualitativ hochwertige Wissenschaftskommunikation müssen entsprechende Ressourcen vorhanden sein oder bereitgestellt werden. Aus den klassischen Budgets für Forschung und Lehre ist eine medial konkurrenzfähige Kommunikation nicht möglich, schloss die Runde ihre Beobachtungen ab.
Den Artikel finden Sie in Ernährungs Umschau 01/12 von Seite 6 bis 7.