Nachschlag: Die Kunst der Verdrängung

Lange haben wir gehört und teilweise verinnerlicht, dass die Globalisierung nicht nur alternativlos ist, sondern auch viele Vorteile bringt: eine große, gemeinsame Welt von vernetzten Rohstoff-bzw. Warenströmen, Arbeitskraft und Dienstleistungen. Als Sahneklecks dazu – entsprechende Mittel vorausgesetzt – noch die Möglichkeit zu kulturellem Austausch.

Mit Blick auf Lebensbedingungen, Menschenrechte und ganz generell Zukunftschancen aller ErdenbürgerInnen haben sich die wohlhabenden Länder jedoch meist so verhalten, als ob unsere Energie, unsere Rohstoffe für Elektronikgeräte, E-Auto-Batterien u. v. m. von einem anderen Planeten kämen. Glücklicherweise sind wir hier im richtigen Teil der Menschheit geboren…
Dass nicht nur steigender, sondern auch schon der Erhalt unseres Wohlstands unhinterfragbar an ständiges Wirtschaftswachstum gekoppelt sei, wurde und wird so regelmäßig behauptet, dass es auch jene verinnerlicht haben, die „ständiges Wachstum“ im medizinisch-physiologischen Bereich ganz klar mit Hypertrophie oder als Krebsgeschwulst bezeichnet hätten und sonst eher Homöostase und Fließgleichgewichte als erstrebenswert ansehen.
Nicht wenig Energie verwenden wir alle und mit Blick auf aktuelle Krisen vermehrt auch Psychologen, Coaches und Politiker darauf, dass wir diesen Verdrängungsprozess weiterbetreiben: „Man kann schließlich nicht allen auf der Welt helfen“ und „nur, wer mehr hat als andere, kann auch abgeben“, „nicht zu viele schlechte Nachrichten konsumieren, da dies mental blockiert oder depressiv macht“. Davon, dass mir mein Essen im Angesicht von Welthunger und Krieg nicht mehr so richtig schmeckt, wird ja schließlich niemand satt…
Milliardenbeträge werden derzeit in Rekordzeit und ohne lange Abwägung in Mechanismen zum Erhalt der alten Lebensweise investiert, die Waffenschmieden werden wieder angeheizt, das letzte Gas aus dem Boden gefrackt, Natur-Rückzugsräume unter dem Vorwand der Ernährungssicherung wieder infrage gestellt. Und das, wo für die richtigen Weichenstellungen in Sachen Klimawandel nach optimistischen Prognosen noch ein Zeitfenster von 10 Jahren bleibt.
Während ich dies schreibe höre ich in einem Vortrag auf dem Heidelberger Ernährungsforum das Stichwort: „Wandel durch explizite Anlässe“: Einschneidende Ereignisse (z. B. Krankheit, Naturkatastrophen, Krieg) schaffen ein (oft kurzes) Zeitfenster, um Routinen der Reflexion zugänglich und Neuausrichtungen möglich zu machen.
Im Privaten haben viele von uns das schon einmal als Zeitpunkt für neue Weichenstellungen im Leben erfahren. Nun, an krisenhaften Ereignissen fehlt es derzeit nicht. Wenn wir aus diesem Anlass unsere Routinen und Selbstverständlichkeiten hinterfragen, kann aus Verdrängung Veränderung werden.

Ihr Udo Maid-Kohnert



Den Nachschlag finden Sie wie auch die Vorschau auf die nächste Ausgabe in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 4/2022 auf Seite M232.

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