Nachschlag 6/2024: Es tut sich was in unserem Land

Damals, in den 1980er und 1990er Jahren war es für uns Ernährungswissenschaftler*innen und -berater*innen fast unmöglich, mit Erwachsenen – und hier besonders den Männern – ein vernünftiges Gespräch über gesunde Ernährung, über Gewichtsprobleme und andere ernährungsrelevante Gesundheitsprobleme zu führen. Und wenn doch, dann lag höchstwahrscheinlich ein ganz erheblicher Leidensdruck und eine medizinisch zwingende Notwendigkeit vor.

In einer Zeit, in der der Pro-Kopf-Verbrauch an Fleisch von Jahr zu Jahr noch kontinuierlich stieg und deutlich höher als der Pro-Kopf-Verbrauch an Gemüse war, erntete man*frau meist ein mitleidiges Lächeln, wenn er*sie es beim Smalltalk dennoch versuchte. Nicht viel anders endeten häufig auch Gespräche mit den noch mehr auf Arzneimittelverordnungen als auf ernährungsmedizinische Themen geschulten Ärzt*innen. Selbstverständlich stand wahrscheinlich auch dort ein großes Stück Fleisch, garniert mit allenfalls etwas Gemüse und einer Stärkebeilage, regelmäßig auf dem Mittagstisch.
Noch in den 1990er Jahren ließ der damalige Bundeskanzler seine an gutes Essen gewöhnten Staatsgäste mit einer großen Portion Pfälzer Saumagen bewirten. Und Anfang der Nullerjahre bekannte sich der durch seine gelegentlichen Macho-Allüren auffallende nachfolgende Bundeskanzler als bekennender Pommes- und Currywurstesser, gab sich als kumpelhafter Biertrinker und lobte öffentlichkeitswirksam Pommes und Currywurst als „Kraftriegel für Facharbeiter*innen“.
Seit ca. 10 Jahren zeigen die Agrarstatistiken zum Fleischverbrauch – zum großen Leidwesen der fleischproduzierenden Betriebe – einen deutlichen Trend nach unten. Inzwischen hat sich in einem zunehmenden Anteil der Gesellschaft herumgesprochen, dass zu viel Fleisch und Wurst weder unserer Gesundheit noch unserer Umwelt zuträglich sind. Auch schlagen vielen Bürger*innen die aktuell noch vorherrschenden Haltungsbedingungen von Rind, Schwein, Huhn, Pute und Ente mehr und mehr auf den Appetit. Um zu retten, was noch zu retten ist, stimmten die entsprechenden Steakholder inzwischen sogar zähneknirschend einer stärkeren Fokussierung auf ein Mehr an Tierwohl zu.
Ein untrügliches Zeichen, dass sich etwas getan hat, sind nicht nur die unzähligen via Facebook, Instagram, Pinterest, TikTok oder X von Blogger*innen im Sekundentakt verbreiteten neuen, meist fleischfreien Rezepte. Auch die tagtäglich in den seriöseren Online-Nachrichtenportalen von Spiegel, Zeit oder T-Online mehr ans Bildungsbürgertum gerichteten Rezeptempfehlungen sind inzwischen überwiegend vegetarischer Natur.
Spätestens aber seitdem der o. g. einst currywurstliebende Ex-Kanzler auf der Suche nach der besten Hafermilch für seine Frühstückshaferflocken sein soll und nur noch gelegentlich Fleisch auf dem Speiseplan stehen soll, kann sich die Deutsche Gesellschaft für Ernährung sicher sein, für ihre neuen lebensmittelbezogenen Ernährungsempfehlungen mehr Lob als Tadel zu ernten.

Ihr Helmut Heseker



Den Nachschlag finden Sie wie auch die Vorschau auf die nächste Ausgabe in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 6/2024 auf Seite M368.

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