Zu guter letzt 07/10: Von Experten, Ketzern und Besserwissern

Im Jahre 1517 schlug ein gewisser Martin Luther seine Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg. Er lebte danach trotz zahlreicher Anfeindungen und Todesdrohungen noch 29 Jahre, publizierte eifrig, hatte in dieser Zeit 6 Kinder und – wenn man historischen Darstellungen Glauben schenkt – leider wohl auch einen problematischen BMI. Man kann es als Ketzer also durchaus zu Ansehen und Wohlstand bringen und – wie das Beispiel Luther zeigt – mit der nötigen Überzeugungskraft auch Großes bewegen.

In der Ernährungs Umschau haben wir hin und wieder Bücher zum Thema Ernährungswissen und echte bzw. vermeintliche Ernährungsirrtümer rezensiert . Auch auf dem Gebiet der Ernährung toben zeitweise Glaubenskriege zwischen wirklichen und (zum Teil) selbst ernannten Ernährungsexperten und Ernährungsketzern. Kaum eine Hand voll haben jedoch einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Nicht immer sind echte Reformatoren von Krakeelern schnell zu unterscheiden. Der Google-Suchbegriff „Ernährungs-Wissen“ bringt ca. 713 000 Treffer. Dem stehen gegenüber: Ernährungs-Irrtümer mit ungefähr 123 000 Treffern sowie „Ernährungs- Lügen“ mit ungefähr 78 500 Treffern. Ein sattes Plus also für das Ernährungswissen – nur: Wer hat es gepachtet?

Bewertet man die Einschätzung des durchschnittlichen Verbraucherwissens auf Basis der Lebensmittel- bzw. Verbraucherschutzgesetzgebung, so scheint dort ein Menschenbild zwischen kindlich-naiv und „interessiertem Laien“ vorherrschend zu sein. Nimmt man als Indikator diverse Werbebotschaften hinzu, so weitet sich das Spektrum auf Werte zwischen grenzdebil und Expertentum. Häufig scheint als Komorbidität eine Fehlsichtigkeit angenommen zu werden, die das Lesen halbmillimetergroßer Buchstaben auf farbigem Hintergrund stark erleichtert.

Um diese Un-, Klein- und Fehlgläubigen in Sachen der rechten Ernährung buhlen also Experten und Ketzer gleichermaßen – und haben damit ihr Aus- bzw. Einkommen: Je dezidierter die Empfehlungen für die „richtige“ Ernährung, desto höhnischer teilweise die Entlarvung vermeintlicher Ernährungsirrtümer. Dabei ist die prinzipielle Widerlegbarkeit gerade das Gütesiegel seriöser Wissenschaft (im Unterschied zum Dogma).

Die marktschreierische Aussage „alles gar nicht wahr“ zieht allerdings – in allen Disziplinen – per se oft mehr Aufmerksamkeit auf sich, als detaillierte Ergebnisse auf Basis evidenzbasierter Beurteilung noch so vieler und umfangreicher Studien. Dies ist die Krux wissenschaftlichen Arbeitens: Das Erarbeiten, Prüfen und ggf. Revidieren einer Hypothese kostet Zeit.

Viele Ergebnisse sind auch zu sperrig und facettenreich für die Headline der Boulevardpresse. Daher sind Sie als seriöse Fachkräfte gefordert, dieses Wissen so zu vermitteln, dass daraus gesundheitsförderliches Essverhalten werden kann, bevor die „interessierten Laien“ sich abwenden, weil „die Fachwelt es auch nicht genau weiß“. Dozieren im Still eines zu dogmatischen Experten ist da wahrscheinlich ebenso wenig nützlich wie das grobe Eindampfen komplexer Sachverhalte auf zu einfache Wahrheiten.

Lassen Sie sich bei der Vermittlung Ihres Fachwissens nicht unterkriegen, denn: „Am Ende siegt immer die Wahrheit. Doch leider sind wir vielfach erst ein Stück weit weg vom Anfang.“1

Dr. Udo Maid-Kohnert, Pohlheim

Den vollständigen Artikel finden Sie in Ernährungs Umschau 07/10 auf Seite 400.

1verändert nach Zarko Petan (*1944), slowen. Autor

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