Essstörungen: Orthorexie in der Beratungspraxis

Interview mit Prof. Dr. med. Martina de Zwaan, Hannover

Frau Professorin De Zwaan, sehen Sie in der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie in Hannover viele Menschen, auf die die Kriterien einer Orthorexie zutreffen? 

De Zwaan: Das sehen wir eher selten. Gelegentlich kommt es vor, dass jemand mit der Diagnose Anorexia nervosa zu uns kommt und sich dann herausstellt, dass es sich eigentlich um den extremen Wunsch nach „gesunder“ Ernährung handelt und nicht um den Wunsch nach einer Gewichtsabnahme. Die Gewichtsabnahme ist dann eher ein Nebenprodukt und nicht die primäre Motivation der Betroffenen.

Sind bestimmte Personengruppen besonders gefährdet?
De Zwaan:
Generell scheinen Menschen mit Persönlichkeitszügen, die in Richtung Perfektionismus, Zwanghaftigkeit und Askese gehen, eher prädisponiert zu sein. Ängstlichkeit spielt auch eine große Rolle, da es ja auch um „gesunde“ Ernährung und ein „gesundes“ Leben geht, also das Vermeiden von Krankheiten. Dass sich die Betroffenen durch extrem einseitige Ernährung eigentlich schaden, nehmen sie nicht wahr. Im Beitrag von Barthels1 wird u. a. diskutiert, ob Orthorexie eine eigenständige psychische Störung darstellt.

Wie ordnen Sie die Orthorexie ein: Ist es eine Zwangsstörung? Ist es eine Essstörung? Oder sehen Sie die Orthorexie als nicht pathologisch an?
De Zwaan:
Es gibt bereits Klassifikationskriterien, die auf Englisch publiziert wurden2. Generell äußert sich die Störung im Bereich des Essverhaltens, es gibt aber auch eindeutig zwanghafte Züge. Im DSM-53 kann man die Orthorexie ganz klar der neuen Diagnosekategorie „Störungen mit Vermeidung oder Einschränkung der Nahrungsaufnahme“ zuordnen, also bei den Essstörungen.

Wie gehen Sie mit solchen Patienten um?
De Zwaan:
Zuerst müssen die Betroffenen erkennen, dass es sich um eine Störung handelt, mit der sie sich sowohl sozial isolieren als auch körperlich gefährden können. Die Störung ist i. d. R. sehr ich-nahe und die Patienten sind oft sehr überzeugt von der Richtigkeit ihrer Annahmen eine „gesunde“ Ernährung betreffend. Das nimmt oftmals fast magische Züge an. Ohne eine gewisse innere Distanzierung ist eine Therapie schwierig. Die Behandlung unterscheidet sich dann allerdings nicht wesentlich von der Behandlung bei untergewichtigen Anorektikern oder bei Zwangsstörungen durch Exposition.

Kommen diese Patienten durch eigene Initiative zu Ihnen oder werden sie überwiesen?
De Zwaan:
Das ist schwer zu sagen. Einige kommen aus eigenem Wunsch – wenn schon Leidensdruck irgendeiner Art vorhanden ist. Andere kommen aufgrund der Empfehlung anderer Ärzte oder Therapeuten, oft bei hoher Ambivalenz.

Wie sollten Ernährungsfachleute reagieren, wenn sie einem Klienten oder Patienten in der Beratung begegnen, auf den die Kriterien einer Orthorexie zutreffen?
De Zwaan:
Wenn Ernährungsfachkräfte damit konfrontiert werden, sollten sie unbedingt ansprechen, dass die Annahmen bezüglich gesunder Ernährung übertrieben sind, die Ernährung einseitig und ungesund ist und eine potenzielle Gefährdung der Gesundheit darstellt.

Zu guter Letzt: Können Sie abschätzen, ob die Zahl der Orthorektiker tatsächlich zunimmt, oder richten wir lediglich vermehrt unseren Blick darauf?
De Zwaan:
Dazu gibt es keinerlei Daten, das wäre alles Spekulation. Sicher ist aber, dass man das Thema in der Laien-Presse häufiger findet als in der wissenschaftlichen Literatur.

Professorin De Zwaan, vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch für die Ernährungs Umschau führte Stella Glogowski.

Prof. Dr. med. Martina De Zwaan
Medizinische Hochschule Hannover
Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie

1 => ab S. 156 in diesem Heft.
2 Moroze et al. 2015, im Beitrag von Barthels ab S.156, Literaturstelle 12.
3 DSM-5 = Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Aufl., ein psychiatrisches Klassifikationssystem

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