Nachschlag: Weder Prokrastination noch Reaktanz

Es gibt Fertigkeiten, die man perfekt beherrscht, auch ohne zu wissen, dass es dafür einen Fachbegriff und mittlerweile schon Pop-Songs1 gibt. Mir ging (und geht) das auf jeden Fall so: Schon in der Schulzeit habe ich wichtige Aufgaben, die auf jeden Fall zu erledigen waren (eine Hausarbeit, büffeln für eine Klausur), oft ziemlich lange aufgeschoben und davor anderen (Klein)Kram erledigt. Was dann kurz vor dem Klausur- oder Abgabetermin immer in stressiger Nachtarbeit mündete.

PsychologInnen erklären dieses Phänomen – die sog. Prokrastination oder „Aufschieberitis“ – unter anderem mit einer inneren Angst, die Aufgabe nicht erfüllen zu können, oder schlicht mit Unwillen. Ich hatte meist andere Ausreden („das wirst du ohnehin machen, also kannst du erst mal was Anderes anfangen“).
Nun, irgendwie hat das bei mir mit der Schule geklappt, aber wohin Prokrastination führen kann, wenn diese von PolitikerInnen und den sie (zumindest in Demokratien noch) wählenden Gesellschaften konsequent praktiziert wird, erleben wir derzeit alle hautnah: Klimawandel, wachsende Arm-Reich-Schere mit den daraus folgenden politischen Verwerfungen. 50 Jahre nach dem Erscheinen von „Die Grenzen des Wachstums“ schlagen die AutorInnen des aktuell erschienenen Berichts an den Club of Rome „Earth for All2 daher Fünf außerordentliche Kehrtwenden für globale Gerechtigkeit auf einem gesunden Planeten vor. Adressiert werden die fünf Aspekte Armut und (Chancen-)Ungleichheit, Geschlechtergerechtigkeit, ein gesundes Ernährungssystem für Mensch und Planet sowie die vollständige Elektrifizierung des Energiesektors.
Die AutorInnen von „Earth for All“ sind sich sicher, dass der Giant Leap (GL, Riesensprung), also das beherzte Umsteuern trotz der weltweiten Krisen, immer noch möglich ist. Diesen auf konkreten Daten basierenden Optimismus brauchen wir alle dringend. Denn jetzt gilt es, das im Buch ebenfalls besprochene pessimistische Szenario Too Little Too Late (TLTL, Zu wenig zu spät) zu vermeiden (eine Analyse, die ich u. a. dem derzeitigen Verkehrsministerium als Pflichtlektüre in Sachen CO2-Einsparung3 empfehlen möchte).
Ich habe da ein Déjà-vu: Auch die AutorInnen der in dieser Zeitschrift schon oft thematisierten Planetary Health Diet waren optimistisch, dass die von ihnen vorgeschlagene Wende im weltweiten Ernährungssystem machbar ist. Losgetreten haben sie zunächst aber teilweise akademische Klein-Klein-Debatten bis hin zu persönlichen Angriffen auf die AutorInnen (also eher Reaktanz als Prokrastination). Hoffentlich erleidet „Earth for All“ nicht das gleiche Schicksal und wir alle haben den Mut zum Giant Leap.
Also: Schieben wir es nicht auf!

Ihr Udo Maid-Kohnert

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1 Moop Mama: Prokrastination. www.youtube.com/watch?v=FJTMPs_JCgc 
2 Dixson-Declève S, Gaffney O, Ghosh J, Randers J, Rockström J, Espen Stoknes P: Earth for All. Ein Survivalguide für unseren Planeten. Der neue Bericht an den Club of Rome. Oekom Verlag 2022 (vgl. Rezension S. M580)
3 Ungenügend. FDP-Ministerium legt einen völlig unzureichenden Plan vor. www.sueddeutsche.de/politik/expertenrat-klimafragen-klimaziele-verkehr-1.5645316 



Den Nachschlag finden Sie wie auch die Vorschau auf die nächste Ausgabe in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 10/2022 auf Seite M584.

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