Editorial 02/06: Zurück in die Zukunft?

Prof.Dr.Helmut ErbersdoblerDie aktuelle Ausgabe der Ernährungs-Umschau enthält Beiträge zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Ernährungswissenschaft. Während die schon im letzten Heft begonnenen Artikel zur Steinzeiternährung und Nationalen Verzehrsstudie II weiter geführt werden, wird mit der Gießener Erklärung „Die Neue Ernährungswissenschaft“ beschworen.

Bei der erstmals auf Deutsch vorliegenden „Giessen Declaration“ handelt es sich um das Ergebnis einer weltweit unterstützten Initiative, welche die Ernährungswissenschaft wieder ganzheitlich definiert. In der Tat spielen in den Entwicklungsländern agrarökonomische Fragen oft eine größere Rolle als z. B. biochemische Aspekte. Dagegen wird bei uns die Ökotrophologie schon als „zu breit angelegt“ dabgewertet. Es ist daher sehr verdienstvoll, dass dies dadurch gerade gerückt wird.

Andererseits muss man sich fragen, ob die „neue Epoche der Menschheit“ nun wirklich schon angebrochen ist. Man mag Inhalt und Botschaft der Erklärung noch so positiv gegenüber stehen, deren Aussage entspricht wohl eher einem Wunschdenken als der Wirklichkeit. Gerade erst schickt sich China an, die Umwelt- und Ernährungsfehler der westlichen Welt zu wiederholen. Weitere Schwellenländer werden diesem Beispiel folgen, von den Entwicklungsländern ganz zu schweigen.

Also sollten wir relativieren. Wir befinden sind mitten in einem Prozess des Wandels. Dieser begann bereits Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts mit der Erklärung des Club of Rome und wird (hoffentlich) im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts abgeschlossen. Dennoch: Die “Gießener Erklärung“ ist wichtig und wertvoll. Sie ist eine Aufforderung zur rechten Zeit, damit ein Ruck auch durch die Ernährungswissenschaft geht.

In diesem Sinne muten die Überlegungen zur „Steinzeiternährung als Goldstandard“ anachronistisch an, wie Ströhle und Hahn zu Recht bemerken. Nicht nur, dass es „ungesund“ erscheint, einem uneingeschränkten Fleischverzehr zu propagieren, historisch und global gesehen ist es unsinnig, ja gefährlich. Der Mensch hat bisher keine Skrupel gehabt, sich die Erde untertan zu machen. Unzählige Tierarten wurden dabei ausgerottet oder in ökologische Nischen gedrängt.

Letztlich beuten hinsichtlich der verfügbaren Lebensmittel elitäre Gruppen die Welt auf Kosten der ärmeren, weil deshalb auch ungebildeten, Bevölkerungen aus. Zu sagen, 6 Milliarden Menschen müssten wieder essen wie die Löwen, weil unser Magen-Darm-Trakt eher dem des Löwen ähnelt als dem der Kuh, ist absurd. Dank unserer Intelligenz und Kommunikationsfähigkeit können wir uns so ernähren, dass die Energiegewinnung wenn auch nicht optimal, so doch zumindest nicht umweltzerstörend erfolgt. Wir wären in der Lage, die Methan- und CO2-Produktion entscheidend zu reduzieren und den Stickstoffeintrag in Gewässer und Luft zu minimieren, um nur zwei Beispiele zu nennen. Dann hätten auch unsere Nachkommen noch etwas zu essen, Wasser zum Trinken und Luft zum Atmen.

Natürlich ist es am wichtigsten, die Bevölkerungsexplosion einzudämmen, vor allem durch bessere Bildung. Hier sehen wir schon etwas Licht am Ende des Tunnels. Erstmals wurden kürzlich die Prognosen für das Bevölkerungswachstum revidiert. Nach den neuesten Schätzungen werden es im Jahr 2050 nicht 12, sondern nur 9 Milliarden Menschen sein. Nun gut, wird mancher denken, dann können wir ja weiter prassen. Nein, denn wir unterschätzen immer noch den „Nachholbedarf“ der noch nicht „durchindustrialisierten“ Länder, also von Dreiviertel der Welt. Einen kleinen Vorgeschmack erleben wir derzeit bei dem Stahl- und Energiebedarf Chinas. Damit vergleichbar werden die Transformations- und Entwicklungsländer „wertvolle Lebensmittel“ fordern und umso mehr, je schlechter das Beispiel ist, das wir selbst geben.

Ob die Gießener Erklärung eine wenig beachtete Initiative bleibt oder ein Aufruf zur rechten Zeit ist, das wird davon abhängen, ob wir uns an dieser Weiterentwicklung der Ernährungswissenschaft aktiv beteiligen.

Ihr

Helmut Erbersdobler

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