Editorial 6/2018: 100 Tage im Amt

Seit mehr als 100 Tagen sind sie nun im Amt: die GroKo und Julia Klöckner, die neue Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft. Inzwischen wissen wir – zumindest vage – was sie will und was nicht.

So hat die Bundesministerin bereits bei verschiedenen Gelegenheiten einer Zucker- und Fettsteuer, einer Ampelkennzeichnung sowie allen als paternalistisch verunglimpfbaren Maßnahmen eine deutliche Absage erteilt. Und Ernährungspolizei spielen möchte sie auch nicht. Stattdessen soll – wie im Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode1 zwischen Zeile 4 123 und 4 186 festgehalten – im Rahmen einer Nationalen Reduktionsstrategie für Zucker, Fett und Salz die Reformulierung von Fertigprodukten mit „wissenschaftlich fundierten, verbindlichen Zielmarken und einem konkreten Zeitplan versehen“ forciert umgesetzt werden.

Der BLL2 hält allerdings offenbar wenig von seinem früheren Anspruch „Gemeinsam Verantwortung zeigen für einen gesunden Lebensstil“. Statt mit der Politik, der Wissenschaft und den Verbraucherverbänden die im Koalitionsvertrag deutlich benannten Gesundheitsprobleme gemeinsam anzugehen, wünscht man sich beim BLL offenbar keine Reformulierung von existierenden Lebensmitteln, sondern setzt auf eine Neuformulierung von „innovativen kalorienreduzierten und nährstoffangepassten Produktvarianten“ … und belässt bei bisherigen Produkten die Zusammensetzung wie gehabt. Ob dabei auch an die Entwicklung neuer Lebensmittel mit Fettersatz- und Fettaustauschstoffen (=> S. S31 in diesem Heft) oder an Nahrungsergänzungsmittel aus Pilzen (=> S. M310) gedacht ist, bleibt offen.

Spannend wird sein, ob der Bundesministerin ein für Verbraucher/innen befriedigender Ausgleich zwischen berechtigtem gesundheitlichem Verbraucherschutz und den Interessen der Ernährungswirtschaft gelingt, ob sie sich – wie viele ihrer Vorgängerinnen und besonders auch ihrer Vorgänger im Amt – mehr als Agrar- und Lebensmittelministerin um das Wohl von 1,5 Mio. in der Lebensmittelproduktion „vom Acker bis zum Teller“ Beschäftigen oder mehr als Ernährungsministerin um die Belange von 82,5 Mio. Bürgerinnen und Bürger kümmert.

Spannend wird sein, ob sie sich weiter mit groß angekündigten freiwilligen Selbstverpflichtungen der Lebensmittelindustrie zufriedengeben wird oder ob sie das von foodwatch angeprangerte „süße Influencer-Marketing“ stoppen kann und ob es ihr gelingt, uns durch objektiv mehr Tierwohl einen ungetrübteren Genuss von Rind-, Schweine-, Puten- und Hähnchenfleisch zu ermöglichen.

Spannend wird sein, ob sie nachhaltig unsere Bienen und Hummeln rettet und nicht nur die Neonikotinoide auf den Index setzt, sondern auch unsere Nahrungskette und vor allem unser Bier wieder von Glyphosat befreit. Und ganz spannend zu beobachten wird sein, ob sie die wirklich harten Ernährungsthemen unserer Zeit tatkräftig anpackt oder doch lieber mit den in der Politik beliebten weichen Themen kleine Brötchen backt: Lebensmittel vor dem Weg in die Tonne rettet, die unzureichende Situation der Ernährungsbildung in Kitas und Schulen kritisiert, die Bürger/innen zu mehr Wertschätzung von Lebensmitteln ermahnt und die Lebensmittelkennzeichnung innovativ visualisieren lässt.

Spätestens nach 1 000 Tagen im Amt wissen wir mehr. Nicht nur die Kritiker/innen werden sie an ihren Taten messen.

1 www.bundesregierung.de/Content/DE/StatischeSeiten/Breg/koalitionsvertrag-inhaltsverzeichnis.html
2 BLL: Bund für Lebensmittelkunde und Lebensmittelrecht


Ihr Helmut Heseker



Diesen Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 6/2018 auf Seite M297.

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