Rezension 12/04

Die Dickmacher

Medienbeflissene wissen, worum es geht, obwohl „Dickmacher“ weder modisch noch physiologisch unstrittig definiert sind. Journalistisch oder werbewirksam simplifiziert und pauschalisiert Aufbereitetes gewohnt, wundern sie sich auch nicht über Formulierungen wie beispielsweise „Berliner sind schlanker, Thüringer sind dicker“ , „Der Bäcker als Imbiss“ (S. 118), „Ohne Bewegung funktioniert das Hirn schlechter“ (S. 135) oder „ernährungskundliche Analphabeten“ S. 215), too big to ignore, wie es heißt.

Denn „Rationalität ist rar auf dem weiten Welt (Feld?) der Ernährungslehre“ (S. 229). Allerdings überliest der fettleibig bedingten Bildungsnotständen (S. 213) noch ante pisam Entkommene kaum fehlerhafte Bezeichnungen („Triptophan“ S. 54) oder Summationen (Kalorien S. 146). Wer noch ein bisschen mehr gelernt hat, reibt sich die Augen, wenn HDL als „böse“ und LDL als „gut“ bezeichnet werden oder Polyalkenfettsäuren, vor allem die vom Omega-3-Typ, LDL steigen und HDL sinken lassen sollen (S. 239).

In der klassischen Literatur Bewanderte hingegen haben alsbald Aischylos’ Orestie vor Augen, sehen Kassandra vor dem Tor der Burg von Mykene und bezweifeln trotz Christa Wolfs Darstellung einer damals matriarchalisch geprägten Kultur, dass der ministrablen Kassandra nicht allein wegen Apollons Fluch der sendungsbewusste Erfolg beschieden sein wird. Warum?

Die deutsche Ernährungswissenschaft hat das angesprochene Problem schon vor einem halben Jahrhundert und nicht erst im Zusammenhang mit der Sicherung von Renten vor drei Jahrzehnten (S. 17) erkannt. Inzwischen hat sie es 50 Jahre lang durch „Vermitteln von Wissen und Fähigkeiten“ zu lösen versucht, und zwar ohne die nunmehrige Erhebung „zur zentralen Aufgabe der Politik“ (S. 29).

Wenngleich spiralförmig auf ein höheres Erkenntnisniveau gekommen, hat sie sich jedoch im Kreise gedreht, und das Realisieren einer den Energiebedarf nicht über- oder gar unterschreitenden Zufuhr ist für die Volksernährung die umstrittenste Ernährungsfrage geblieben. Falls dies daran liegt, „dass offenbar die Geschichte der Ernährung eine stete Abfolge falscher Annahmen, unsinniger Regeln und haarsträubender Halbweisheiten“ (S. 251) ist, dann klammert sich der vorliegende Versuch, die Ursachen von Übergewicht darzustellen und der Komplexität angemessene Antworten (S. 300) zu finden, zumindest nicht aus.

Nach rund 200 Seiten wird überhaupt erst erkenntlich, dass Eltern und Erzieher die Hauptzielgruppe des Buches sein sollen. Bis dahin werden gleichermaßen für Über- wie Untergewichtige mehr oder weniger populär-enzyklopädisch so ziemlich alle Elemente und Argumentationshilfen heutiger, Nahrung und Ernährung betreffender Lehrinhalte dargelegt und mit anthropologischen, evolutionsbiologischen, kulturhistorischen, sozio- und psychologischen sowie religiösen und selbst Tischmanieren einschließenden Informationen angereichert.

So locker vom Hocker dabei vorgegangen wird, der intellektuelle Anspruch ist nicht durchgängig gleich niedrig angesetzt (Wer weiß z. B., was ein Botenstoff und was Ghrelin ist? S. 55). Überdies macht nicht widerspruchsfrei überbordende Redundanz selbst sarkastisch formulierte Texte weder verständlicher noch einprägsamer. Außerdem haben bislang ebenso wenig Drohungen vor gesellschaftlicher Verwahrlosung (S. 128) oder Erkrankungsrisiken (S. 46–48) wie Aussichten auf eine verbesserte Gesundheit die erwünschten Wirkungen gezeigt.

Wenn die Autorin dann endlich zum eigentlichen Problem kommt und zu dessen Lösung von ihr konkrete Maßnahmen oder visionäre Vorschläge erwartet werden, bereichert sie lediglich das Verwirrspiel der Ernährungskreise und -pyramiden mit einem höchst eigenwilligen und keineswegs stimmigen „Ernährunskompass“ und weist Streit über einen „optimalen Nährstoffmix“ „den Experten“ (S. 268–269) zu. Gewiss, man wird der Ministerin Ehrlichkeit bei der Analyse und gut gemeinte Absichten zur Verbesserung einer verfahrenen Situation nicht absprechen können.

Doch ihre Frage, wo sich der Mensch bewegen soll, sobald ihm körperliche Arbeit durch Maschinen abgenommen wird (S. 295), stellt sich bei fast 5 Mio. gänzlich Arbeitslosen neu und weiter gehend. Die wichtigste der Marx’schen Thesen über Feuerbach abgewandelt, sollte man von damit konfrontierten Politikern deshalb erwarten dürfen, dass sie nämlich offensichtliche Fehlentwicklungen nicht nur interpretieren, sondern sie wenigstens auch zu verändern versuchen.

Berthold Gaßmann, Nuthetal

Künast, R.: Die Dickmacher. Warum die Deutschen immer fetter werden und was wir dagegen tun müssen. 315 S., 55 Abb., 11 Tab., 12 Synopsen. RiemannVerlag, München 2004, 18,00 €.

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