Alimentum ultimum 01/03 (Das letzte Gericht)

Johannes

I’m not waiting for times to change, I’m goin’ to live like a free roamin’ soul. Erwin, Kanzleramtsbeamter und Ehemann meiner Berliner Cousine Elvira, singt Neil Young, er denkt ans Auswandern. In und für Deutschland sehe er nur noch schwarz, sagt er. Ich brauchte mir doch bloß anzusehen, wie Wilhelm Zwos Schwatzbude, von Norman Forster so prächtig aufgestylt, im freien Fall erst zum Schmierentheater und jetzt zum Tollhaus verkommen sei.

Zutiefst frustriert habe er Silvester am Gendarmenmarkt an Europas längster Schokoladentheke mit abschmelzender Zungenzärtlichkeit zunächst Glückshormone und dann im Konzerthaus bei Beethovens Neunter Glücksgefühle über die Seele frei zu setzen versucht, alles vergebens. Zum Jahreswechsel selbst sei er mit Elvira auf seltsamen Pfaden schließlich in Pia’s Pinte gelandet. Die missbräuchliche Übertragung des englischen Genitivs auf den deutschen habe er da schon nicht mehr wahrgenommen, doch völlig benebelt habe ihn erst ein Traubentresterschnaps aus dem Rheingau, der ihm als "Herbstnebel" aufgedrängt worden sei.

Zwar sei ihm, dem ehemaligen DDR-Bürger, des italienischen Grappas damals noch unkundig, ein vergleichbarer, allerdings als "Weinkognak" geadelter bulgarischer Branntwein namens "Pliska" so schlecht gar nicht bekommen. Hier aber habe ihn wohl der "Küstennebel" in die Irre geführt, dem er, gleich nach der neuen Zeitrechnung, auf Sylt kräftig zugesprochen hätte, mit Fischbrötchen natürlich und bei Gosch.

Hier indes habe er, ehe ihm die Sinne schwanden, nur noch vernommen : "Ey Alter, hör ma zu, det is’ dem Boris ihm seine Verlobte !" Sein lallender Aufruf an die Berliner "Rettet dem Dativ"! sei jedenfalls nicht mehr verstanden worden, wisse er von Elvira. Ich solle ihm deshalb mit meinem nunmehrigen "Rettet den Genitiv"! bitte gestohlen bleiben, genauso wie jede Art trinkbaren Nebels, selbst wenn es sich um "Donnizetti’s Liebestrank" handele, für den in den hauptstädtischen Kinos, so geschrieben, die Lindenoper werbe.

Im Übrigen setze er fortan lieber auf den Doktor von "Prisma", der TV-Beilage seiner Zeitung, als auf mich und, was seine Kreuzschmerzen angehe, auf dessen Präferenz von Soja-Power für die Bandscheiben. Weg also mit Fleisch und Wurst wegen der Arachidonfettsäure! Schluss mit dem überhöhten Ausstoß des Eiweißstoffes Histamin! Hin statt dessen zu Omega-3-Fettsäuren und deshalb zu Sojabohnen sowie zu ölhaltigem Obst und Gemüse! Hin gleichfalls zu Vitamin C und dem gemäß zu saurem Obst! Gib ihm Saures gleichermaßen beim Radfahren und Schwimmen! So einfach sei das, höhnt Erwin.

Der Doktor müsse große Angst vor verdorbenen Fettfischen haben, weiß ich mir nur zu helfen, und die würde ich auch nicht essen, nicht einmal mit großen Mengen Vitamin C. Oder sollte ich lieber mit Schiller fragen: "Durch welchen Missverstand hat dieser Fremdling zu Menschen sich verirrt"? (Don Carlos 2, 2). EU01/03

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