Editorial 2/2022: Ernährungstherapie? Lebensrettend!
- 14.02.2022
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- Sabine Schmidt
Lethargie, häufiges Erbrechen mit Gewichtsabnahme, wiederkehrende Krampfanfälle oder gar ein plötzlicher Tod eines Neugeborenen – ein Horrorszenario für Familien. Gut, wenn betreuende MedizinerInnen in der Kinderklinik auch mögliche angeborene Defekte des Protein-, Fett- oder Kohlenhydratstoffwechsels (⇒ ab S. M90) im Hinterkopf haben, wenn solche Symptome auftauchen. Denn auch wenn das Kind nicht stirbt: Vergeht eine längere Zeit bis zur Diagnose einer solchen Krankheit, sind leichtere oder schwerere geistige und körperliche Entwicklungsstörungen teilweise nicht mehr umkehrbar.
Ich selbst bin einem dreijährigen Mädchen mit GLUT-1-Defekt begegnet, das schwere Beeinträchtigungen entwickelt hatte, bis endlich die richtige Diagnose gestellt und die Ernährung auf eine ketogene Diät (bei dieser Erkrankung die Therapie der Wahl) umgestellt wurde. Als ich sie auf dem Spielplatz traf, war die Mutter traurig, weil ihre Tochter nicht gut mit den anderen mitspielen konnte, aber auch erleichtert über das Ende der „Irrfahrt“ und die gut anschlagende Diät. Auch anderen tapferen Kindern und Eltern bin ich begegnet, die bis zur richtigen Diagnose z. T. bereits mehrere Kliniken aufgesucht und viel Zeit auf kinderneurologischen Stationen verbracht hatten. Im Lauf ihres weiteren Lebens müssen Betroffene viel auf sich nehmen. Ein Baustein davon für einige Erkrankungen ist eine lebenslange, oft streng einzuhaltende Diät.
Eine der guten Nachrichten ist: Die richtige und professionell konzipierte Ernährungstherapie kann vielen Erkrankten helfen, ein weitgehend normales Leben zu führen, wenn sie früh genug angewendet und konsequent befolgt wird. „Insgesamt zeigen die Artikel zu den seltenen angeborenen Stoffwechselerkrankungen deutlich, wie viel mit Ernährung und angewandter Ernährungswissenschaft erreicht werden kann, und dass – nach wie vor – ein hohes Forschungspotenzial besteht“, so Dr. Tobias Fischer. Er ist neben Ulrike Och und Prof. Dr. Thorsten Marquardt von der Universitätskinderklinik Münster einer der AutorInnen der in diesem Heft abgeschlossenen vierteiligen Reihe zu den angeborenen Stoffwechselerkrankungen. In den Artikeln werden die wichtigsten der über 1000 bisher bekannten, meist seltenen Erkrankungen inklusive der aktuell eingesetzten Ernährungstherapie praxisnah vorgestellt.1 Damit sind sie eine wertvolle Quelle an klinischer Erkenntnis und Erfahrung und zeigen gleichzeitig, dass ein interdisziplinärer Ansatz in der Ernährungstherapie unumgänglich ist.
Nicht in allen Bereichen der Gesunderhaltung und Therapie bei Krankheiten hat die Ernährung diese hohe therapeutische Relevanz. Andere Faktoren wie Bewegung und psychische Gesundheit spielen z. B. bei den Herz-Kreislauf-Erkrankungen eine genauso große (oder sogar größere) Rolle. Diese Komplexität der Einflussfaktoren muss einerseits MedizinerInnen, aber andererseits auch uns als ÖkotrophologInnen und DiätassistentInnen immer wieder darin bestärken, die eigene Berufsgruppe als wichtig zu vertreten, aber dabei nicht als die wichtigste von allen zu betrachten. Professionszentrismus hilft nicht. Was hingegen hilft, ist, mit anderen Professionen und TherapeutInnen im Team zusammenzuarbeiten, wie wir es auf unserer Online-Tagung im Oktober 2021 zum Thema „Zusammen arbeiten“ geübt haben. Das große Interesse und die positiven Rückmeldungen der Teilnehmenden zur Tagung bestärken uns in diesem Ansatz.
Ihre Sabine Schmidt
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1 in diesem Heft ab S. M90, 1. + 2. Teil in Ausgabe 10/2020, 3. Teil in 02/2021
Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 2/2022 auf Seite M57.