Nachschlag: Mehr Schein als Sein

Wenn man der allgegenwärtigen Werbung und dem Gezwitscher von InfluencerInnen glauben darf, dann sind wir ein Volk von Immungeschwächten, Schlafgestörten, Verspannten, von Unruhe Befallenen, an Reizdarm und anderen gastrointestinalen Beschwerden sowie an Gelenkbeschwerden, Blasenschwäche und Libidostörungen Leidenden. Die Angst vor echten oder vermeintlichen gesundheitlichen Defiziten – verbunden mit großem Leidensdruck sowie Selbstoptimierungswünschen – scheinen ein weites und lukratives Feld für innovative, fantasiebegabte Inverkehrbringer zu sein.

Fast täglich drängeln sich neue, mit mehr oder weniger unaussprechlichem Namen versehene, Linderung und rasche Überwindung des verlorengegangenen Wohlbefindens versprechende Produkte auf die erfolgreichen Werbeplätze. Oft handelt es sich um Nahrungsergänzungs- oder Medizinprodukte, bestehend aus einer abenteuerlichen Mischung von Vitaminen, Mineralstoffen, Pseudovitaminen, Pflanzenextrakten, Nahrungsfasern und zunehmend auch Bakterienkulturen. Darreichungsform und Apothekenvertrieb verstärken den Anschein eines wirksamen Arzneimittels.
Für einige besonders nervig beworbene Produkte – die eigentlich niemand braucht und deren Wirkung bestenfalls in selbstfinanzierten Studien, unverblindet, ohne Placebogruppe untersucht wurde – sollen die Werbeplätze gleich für ein ganzes Jahr gebucht worden sein.
Lange ist es her, dass Leidgeplagte reine EmpfängerInnen ärztlicher Handlungen und Expertise waren. Inzwischen kümmern sich viele ZeitgenossInnen u. a. mithilfe von Dr. Google um die eigene Gesundheit und selbst diagnostizierte gesundheitliche Probleme und Unpässlichkeiten. Da ist es nicht verwunderlich, dass sich Selbstmedikation inzwischen zur zweiten Säule des Apothekenumsatzes entwickelt hat. Es ist faszinierend, mit welcher Nonchalence – um nicht zu sagen Frechheit – und wie mithilfe pfiffiger JuristInnen gesetzliche Regelungen über gesundheitsbezogene Werbung umgangen werden und wie Leidensdruck schamlos ausgenutzt wird. Um entsprechende Verbote zu umgehen und in Ermangelung von echten Nutzenbotschaften, werden Produkte leicht verständlich einfach als „Nervenfutter“ oder „Stärkung für den Winter“ beworben und man vertraut ansonsten der werblichen Raffinesse.
Die auf vielen Feldern zu beobachtende Negierung wissenschaftlicher Erkenntnisse, verbunden mit Fake-News, scheint mehr und mehr auch Aussagen zur Ernährung und Gesundheit zu befallen. So wurden mithilfe von Desinformation profitable Geschäftsfelder geschaffen. Bleibt zu hoffen, dass die Behörden unseriöse Werbemöglichkeiten für Gesundheitsprodukte überprüfen, den Wildwuchs eindämmen und Irreführungen zum Schutze der VerbraucherInnen nachhaltig unterbinden.

Ihr Helmut Heseker



Den Nachschlag finden Sie wie auch die Vorschau auf die nächste Ausgabe in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 2/2022 auf Seite M120.

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