Nachschlag Juni 2023: Ich bin nicht sauer

Wer kennt sie nicht, ausufernde Ratgeberliteratur und Zeitschriftenartikel zum Säure-Basen-Haushalt, zum Basenfasten, über Basenkuren und die vielen Pülverchen in Apotheken, Drogeriemärkten und im Onlinehandel zum Säure-Basen-Ausgleich? Die Werbeversprechen dahinter gehen von der sehr eingängigen Theorie aus, dass es durch eine westliche Ernährung mit überwiegend stark säurebildenden Lebensmitteln, also mit reichlich tierischen Proteinen wie Fleisch und Käse, raffinierten Getreideprodukten oder Zucker, und gleichzeitig wenig basenbildenden Lebensmitteln wie Gemüse und Obst, aber auch durch Stress und einem insgesamt ungünstigen Lebenswandel zu einer latenten Übersäuerung im Körper kommt.

Die als Folge postulierten Gesundheitsprobleme sind äußerst vielfältig: Von Akne, Allergien, Arteriosklerose, Arthrose, Bronchitis über Erschöpfungszustände, Gicht, Gallen- und Nierensteinen, Infektanfälligkeit, Kopfschmerzen und Migräne, Krampfadern, Krebs, Nervosität und Reizbarkeit, Osteoporose, Rheuma bis zu Verdauungs- und Wundheilungsstörungen ist wahrscheinlich für fast jedermann und jederfrau etwas dabei. Entsprechend vielfältig sind die vollmundigen Werbeversprechen für die den Säure-Basen-Haushalt angeblich wieder ins Gleichgewicht bringenden Mittelchen.
Da unser Körper aber nur sehr geringe Schwankungen des Blut-pH-Wertes toleriert (pH: 7,35–7,45) und schon geringe Abweichungen zu massiven Stoffwechselstörungen führen würden, wird der pH-Wert äußerst effektiv reguliert. Schon bei kleinsten Abweichungen werden beim halbwegs gesunden Menschen entsprechende Regulationsmechanismen aktiviert und z. B. überschüssige Säuren über die Nieren ausgeschieden oder über die Lunge abgeatmet. Aufgrund dieser Perfektion konnte in seriösen klinischen Humanstudien eine Wirksamkeit der einen Säure-Basen-Ausgleich versprechenden Nahrungsergänzungsmittel nie nachgewiesen werden. Lassen Sie sich bitte auch nicht durch wohllautende Aussagen der Alternativ- oder Orthomolekularmedizin, der Makrobiotik mit den Yin-säure- und Yang-basenbildenden Lebensmitteln oder der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) irritieren: Auch deren Vertreter haben das enorme Marktpotenzial der o. g. Allerweltsunwohlseinbefindlichkeiten oder ernsthaften Erkrankungen erkannt.
Sauer bin ich allenfalls, dass trotz der vielfältigen Aufklärungsbemühungen für Verbraucher*innen und trotz qualifizierter Ernährungsberatung immer noch so viele Menschen an den Säuremythos glauben und viel Geld ausgeben für Dinge, die nachgewiesenermaßen keinerlei gesundheitlichen Nutzen haben und lediglich die Kassen der Hersteller füllen. Dabei ist es doch so einfach: Durch eine vollwertige, pflanzenbetonte Ernährung mit reichlich wenig verarbeiteten Lebensmitteln und nur gelegentlicher Fleischbeigabe wird unser Säure-Basen-Gleichgewicht auf ganz natürliche Weise optimal unterstützt.

Ihr Helmut Heseker



Den Nachschlag finden Sie wie auch die Vorschau auf die nächste Ausgabe in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 6/2023 auf Seite M400.

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