Editorial 7/2020: Klaren Kopf behalten – ganz ohne Alumütze

„Die kontroverse Diskussion um die Stärken und Schwächen wissenschaftlicher Studien sowie ihre Interpretation ist ein unverzichtbarer Bestandteil des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses [...] Die weit verbreitete Erwartung einer prompten und endgültigen Wahrheit als Ergebnis einer Untersuchung ist wissenschaftsfremd.“

Zu dieser Aussage sah sich aktuell die Gesellschaft für Virologie (GfV) genötigt1. Dies geschah nicht zuletzt, weil ein im Auflagensinkflug befindliches Schlagzeilenblatt durch scheinbare Enthüllungen auf der Aufmerksamkeitswelle um den Virologen Christian Drosten mitsurfen wollte.
Die GfV führt weiter aus: „Wissenschaftliche Evidenz wird in den wenigsten Fällen durch eine singuläre Studie generiert, sondern durch die vielfache Reproduktion von Daten mit denselben oder anderen Forschungsansätzen.“

Auch im Ernährungsbereich sind es weit verbreitete Geschäftsmodelle, angebliche Ernährungsirrtümer aufzuklären, die Aussagen von Fachgesellschaften als bevormundendes Dogma zu hinterfragen oder „uraltes Wissen unserer Ahnen“ in Form neuer Trenddiäten zu vermarkten. Und während die Disziplin der Virologie sich (ich vereinfache stark!) überwiegend mit Methoden der Molekulargenetik und Biochemie sowie epidemiologischen Beobachtungen befasst, steht die Ernährungsforschung in Sachen Evidenz oft vor noch größeren Herausforderungen: Hier kommen zu den bereits genannten Methoden z. B. noch soziokulturelle Aspekte, die individuelle Ess-Biografie und zunehmend (zu Recht) Aspekte der Ethik und Nachhaltigkeit als Einflussgrößen hinzu. Diese Komplexität erschwert es, Zusammenhänge zu erkennen und daraus Prognosen zu erstellen.

Vielleicht macht gerade diese Erfahrung mit ganzheitlichen Aspekten des Phänomens Ernährung, vermischt mit teilweise beindruckenden Einzelfallbeispielen besonderer Ernährungsweisen und einem Schuss Bio-Idylle ernährungsinteressierte Menschen anfälliger für ein esoterisch-weltverschwörungsfürchtendes Gedankengebräu2 und den typischen Sektierer-Reflex: „Sie argumentieren gegen mich, also muss ich recht haben…“ (⇒ „Nachschlag“ auf Seite M440). Zumal, wenn die algorithmischen Mechanismen der sozialen Medien aus ehemaligen Mehr-oder-Weniger-Normalos in Rekordzeit Influencer-Superstars machen. Ernährungsfachkräfte sollten da einen klaren Kopf behalten.

In der ERNÄHRUNGS UMSCHAU bleiben wir deshalb der Linie treu, geprüfte ernährungswissenschaftliche Forschungsergebnisse zu publizieren – gleichsam einzelne Puzzlestücke wissenschaftlicher Evidenz. Wir hinterfragen und erläutern regelmäßig, wie ernährungswissenschaftliche Aussagen entstehen, und behalten zugleich den wachen Blick für neue, noch kontroverse Themen oder neue Sichtweisen auf „alte“ Themen. Der Themenmix in diesem Heft ist ein gutes Beispiel.

Dass Ernährung auch helfen kann, einen klaren, funktionsfähigen Kopf zu behalten, ist in diesen Zeiten doch ein gutes Gefühl! Mit diesem klaren Kopf und aus Verantwortung haben wir uns entschlossen, unsere für den 6.11.2020 geplante 4. Tagung der ERNÄHRUNGS UMSCHAU auf den 29.10.2021 zu verschieben und Ihnen als kleine Vorausschau darauf am 25. September 2020 einen digitalen „Tagungs-Snack“ anzubieten (⇒ S. M383).

Ihr Udo Maid-Kohnert

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1 Pressemeldung vom 8.6.2020: www.g-f-v.org/ 
2 Corona und Verschwörungstheorie: Macht Bio wirr? https://taz.de/Corona-und-Verschwoerungstheorie/!5684477/; Umfrage: Veganer lehnen Verschwörungstheorien zu Corona ab. www.presseportal.de/pm/71147/4601794 



Dieses Editorial finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 7/2020 auf Seite M377.

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