Nachschlag: Küchentechnomanie

Welch Fortschritt muss es für unsere Vorfahren vor ca. 1,5 Mio. Jahren gewesen sein, als es ihnen gelang, das Feuer zu beherrschen und gesammelte oder erlegte Nahrung zu erhitzen, zu garen und damit verdaulicher, schmackhafter sowie haltbarer zu machen. EvolutionsbiologInnen sehen darin den entscheidenden Wendepunkt und die Voraussetzung in der Entwicklung des Homo sapiens für seine Gehirnentwicklung, Lebenserwartung sowie überwältigenden Reproduktionserfolge.

Brauchte es anfänglich nur Feuer und vielleicht eine Steinklinge, wurden Küchentechnik und Kochkunst seitdem immer weiterentwickelt – vom einfachen Zubereiten in/über offenem Feuer, über Kochen in abgedichteten Kochgruben, in denen das Wasser durch Hinzugabe heißer Steine erhitzt wurde, oder später über einer häuslichen Feuerstelle in zunächst tönernen, dann in metallischen Töpfen. Jahrhunderte vergingen, bis erste mit Holz oder Kohle befeuerte Herde Einzug hielten, zunächst in die Haushalte der Bessergestellten und bald als Standardküchenausrüstung.

Doch damit nicht genug: Heute bietet die Küchenindustrie neben dem einfachen Elektroherd eine Vielzahl weiterer Heißgeräte an: Induktionskochfelder mit und ohne Downdraft-Dunstabzug, Backofen mit Pyrolysefunktion, integrierter Mikrowelle oder Dampfstoß, Wärmeschubladen, Dampfgarer und ganz aktuell: Sous-Vide-Garer.

Zur Küchenausstattung und zur Erleichterung der menschlichen Existenz zählen natürlich auch eine teure Alleskönner-Küchenmaschine und weitere zum Erhitzen gedachte hochspezialisierte Küchenkleingeräte: Wasser- und Eierkocher (als Ein-Ei-Kocher für Singles), Tauchsieder, Kaffeemaschine oder -vollautomat, Waffeleisen und Toaster sowie für besonders technoaffine Fast-Food-Liebhaber: Hot-Dog- oder Pizza-Maker, Donuts- oder Popcorn-Maschine, Taco-Toaster, Edelstahlwürstchenwärmer, Bretzel-Waffeleisen, Elektro-Schokobrunnen und Hähnchenfriteusegrill. Wer in einem edleren Ambiente kochen möchte, kann viele Geräte auch in luxuriöser Designoptik erwerben und neben der Side-by-Side-Retro-Kühlgefrierkombi mit Eiswürfel- oder Crushed-Ice-Funktion platzieren.

Und natürlich geht auch die Digitalisierungswelle nicht an unseren Küchen vorbei. Dialoggarer geben über Hochleistungssensoren fortlaufend Rückmeldung, wieviel Energie das Lebensmittel bereits aufgenommen hat, verkürzen energiesparend die Garzeit und sorgen für einen optimalen Garpunkt, den man noch dazu über eine mobile App stets im Blick hat. Natürlich bietet die App auch Rezepte und Zubereitungsvideos und erstellt die Einkaufsliste. Zum Glück gibt es für Vergessliche und LebensmittelnichtverschwenderInnen den SmartDevice-fähigen Kühlschrank mit integrierter Innenraumkamera und Fisheye-Aufsatz, der auch beim Einkauf im Supermarkt jederzeit eine Überprüfung der aktuellen Vorräte erlaubt. In einer intelligenten Küche lassen sich neben Backofen und Kühlgerät selbstverständlich auch Kochfelder, Dunstabzugshaube, Geschirrspüler und Kaffeemaschine über eine App oder smarte Sprachassistenten steuern.

Spätestens ab jetzt dürfte es nur noch häusliche Mahlzeiten als mehrgängige Menüs auf Sterne-Niveau geben – oder packt Sie bei so viel technologischer Hochrüstung doch eher die Sehnsucht nach einem Stockbrot am Lagerfeuer?

Ihr Helmut Heseker



Diesen Artikel finden Sie wie auch die Vorschau auf die nächste Ausgabe in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 7/2021 auf Seite M440.

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