Editorial 09/04: Das Leid mit den Leitlinien


Helmut Erbersdobler, Kiel
Prof.Dr.Helmut ErbersdoblerBlickt man im Bereich der biologischen Wissenschaften auf das letzte halbe Jahrhundert, dann beeindrucken vor allem die großartigen Forschungsergebnisse in den biochemisch-medizinischen Disziplinen.  Diese Erfolge wären aber nicht viel wert ohne ihre beweiskräftige Absicherung durch die in dieser Zeit ebenfalls entwickelten Methoden der Biometrie und Statistik. In den Gründerjahren der Naturwissenschaften, zu Zeiten Justus von Liebigs, konnte man sich noch streiten, ob die Pflanze überhaupt Stickstoff benötigt.  Heute geht es dagegen um die Beweiskraft zellbiologischer Untersuchungen oder epidemiologischer Befunde. Inzwischen wurden zusätzlich so genannte Evidenzgrade eingeführt. So schlägt z. B. die WHO die Einstufung von Schlussfolgerungen aus Studien in „überzeugend“, „wahrscheinlich“, „möglich“ und „unzureichend“ vor.  Es zählen dabei lediglich hieb- und stichfeste Studien, besser mehrere davon, am besten sog. Metaanalysen. Was nicht „evidenzbasiert“ ist, gilt in einigen Wissenschaftsbereichen als nicht mehr existent. Für viele „alte Hasen“ ist es sicher schmerzlich, wenn scheinbar eindeutige Expertenmeinungen plötzlich nichts mehr gelten sollen. Das wäre zu ertragen, wenn es in den einzelnen Disziplinen schon einheitlich festgelegte Evidenzkriterien gäbe. Dies ist aber nicht der Fall.  Außerdem lassen sich die häufig geforderten Humanstudien nicht so einfach innerhalb kurzer Zeit und in der geforderten Anzahl durchführen. Bei einigen Fragestellungen, z. B. wenn bei Interventionsstudien der Kontrollgruppe ein deutlicher Gesundheitsvorteil vorenthalten oder eine Mangelsituation nicht behoben wird, verbieten sie sich von vornherein. In manchen Bereichen dauert es sicher noch mehrere Jahre, bis man als Evidenzgrad „überzeugend“ ermittelt.  So ist dieser Beweis selbst bei der vielfach untersuchten Schutzwirkung eines hohen Obst- und Gemüseverzehrs im Hinblick auf das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, noch nicht eindeutig erbracht. Während für Gemüse diese Beziehung vor 7 Jahren noch als überzeugend galt, wurde sie kürzlich an Hand neuerer Befunde auf wahrscheinlich herab gestuft. Im Bereich der Ernährung haben wir es überdies vielfach mit multifaktoriellen Einflüssen zu tun; manche Phänomene werden sich daher kaum beweisen lassen. Sicherlich können wir in der Ernährungsmedizin von bestimmten Teilbereichen der Medizin profitieren, in denen es schon Leitlinien gibt wie für Adipositas, Diabetes, Allergien. Manches will man wohl auch nicht ausschließlich evidenzbasiert festlegen.  Ich denke hier z. B. an die im Interesse des vorsorglichen Verbraucherschutzes weitgehend politisch festgesetzten Grenzwerte für Schadstoffe. Trotzdem muss auch hier ein Anfang gemacht werden, selbst wenn es sich dabei nur um die Basis für dann politisch festgelegten Werte handelt. Dies gilt ebenfalls für die Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr oder Empfehlungen für den Verzehr bestimmter Lebensmittel. Eine Arbeitsgruppe der DGE beschäftigt sich bereits mit diesen Fragen. In Zukunft werden bzw. müssen also auch im Bereich der Ernährung evidenzbasierte Leitlinien erstellt werden, wo und soweit es geht. Daraus wiederum folgen für die Bevölkerung Empfehlungen, die sich dann in der Ernährungsberatung umsetzen lassen. Eines muss allerdings noch stärker als bisher der Öffentlichkeit deutlich gemacht werden: So lange es nicht ausreichend beweiskräftige Untersuchungsergebnisse und Befunde für Leitlinien gibt, wird man sich weiter mit Richt- oder Schätzwerten als Orientierung behelfen müssen. In dieser Ausgabe der Ernährungs-Umschau erhalten Sie erste allgemeine Informationen über Leitlinien (S. 358ff.). Außerdem werden die Empfehlungen der Leitlinie Allergieprävention (S. 361) vorgestellt. Wir werden uns bemühen, am Ball zu bleiben und Sie auf dem Laufenden zu halten.

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