Editorial 9/2022: Keine Ausflüchte
- 14.09.2022
- Print-Artikel
- Udo Maid-Kohnert
Neben den Schlagworten Gasumlage, Tankrabatt und 9-Euro-Ticket rücken zunehmend die Kosten für Lebensmittel in den Fokus: Eltern, die auf finanzielle Unterstützung des Staates angewiesen sind, steht nach den aktuellen Regelsätzen für die Ernährung ihrer Kinder ein tägliches Budget zwischen 3,25 € für Kinder und 4,29 € für Jugendliche zur Verfügung. 4,29 € – dafür bekomme ich bei meinem Bäcker um die Ecke aktuell knapp ein Laugen-Croissant (1,70 €) und einen großen Coffee to Go (2,60 €). Nun sollte diese Zusammenstellung aus mehreren Gründen nicht das tägliche Menü darstellen, aber auch bei überlegter Lebensmittelauswahl und ausreichend Zeit für die Planung des Einkaufs und die Zubereitung wird es bei diesen Regelsätzen schwer, eine Familie ausgewogen und nachhaltig zu ernähren. Im Juli 2022 gab es in Deutschland 3,6 Mio. ALG-II-EmpfängerInnen.
Eva Hohoff et al. zeigen in ihrem Beitrag ab Seite M478, dass der ALG-II-Regelsatz für Lebensmittel in vielen Situationen nicht ausreicht, um die realen Kosten zu decken. Betroffenen bleibt dann oft nur die Möglichkeit, in anderen Lebensbereichen zu sparen: Ausgaben für Bildung und gesellschaftliche Teilhabe sind dann gefährdet. Hochproblematisch in Zeiten, in denen die Spaltung der Gesellschaft eine zunehmende Herausforderung darstellt.
Stärkung der sozialen Teilhabe ist daher auch ein zentrales Anliegen des Projektes „Die Küchenpartie mit peb.“ Franziska Lehmann et al. stellen im Beitrag ab Seite M483 Evaluationsergebnisse der generationsübergreifenden Kochaktionen vor. Ein Fazit: 93 % der Kinder und Jugendlichen und 98 % der Älteren fanden es gut, mit Personen der jeweils anderen Generation ein Kochteam zu bilden.
Gleich in mehreren Meldungen dieses Heftes (Seiten M468, M475, M498) begegnet Ihnen ein „alter Bekannter“, um den es gerade in Deutschland lange ein denkwürdiges politisches Gerangel gab: Der Nutri-Score-Algorithmus wird wie geplant schrittweise überprüft und angepasst, er ist Präzedenzfall einer gerichtlichen Entscheidung zur Transparenz der Studienergebnisse staatlicher Forschungseinrichtungen und in einer aktuellen Studie aus Oxford ist er Grundlage einer Bewertung von Lebensmitteln nach ernährungsphysiologischen und Nachhaltigkeitskriterien.
Die genannten Beispiele zeigen, dass aktuelle Ernährungsforschung wichtige Bereiche des Alltagslebens untersucht. Sie liefert Einblicke und valide Daten für den gesellschaftlichen und politischen Diskurs und hat dabei keine Scheu, getroffene Aussagen laufend zu überprüfen und bei Bedarf nachzujustieren. Ein gutes Vorbild für die Politik in diesen bewegten Zeiten.
Ihr Udo Maid-Kohnert
Dieses Editorial finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 9/2022 auf Seite M465.