Nicht-Zöliakie-Gluten-/Weizen-Sensitivität (NCGS) – ein bislang nicht definiertes Krankheitsbild mit fehlenden Diagnosekriterien und unbekannter Häufigkeit
- 14.11.2018
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- Imke Reese
- Christiane Schäfer
- Jörg Kleine-Tebbe
- et al.
Positionspapier der Arbeitsgruppe Nahrungsmittelallergie der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie (DGAKI)1
Imke Reese, Christiane Schäfer, Jörg Kleine-Tebbe, Birgit Ahrens, Oliver Bachmann, Barbara Ballmer-Weber, Kirsten Beyer, Stephan C. Bischoff, Katharina Blümchen, Sabine Dölle, Paul Enck, Axel Enninger, Isidor Huttegger, Sonja Lämmel, Lars Lange, Ute Lepp, Vera Mahler, Hubert Mönnikes, Johann Ockenga, Barbara Otto, Sabine Schnadt, Zsolt Szepfalusi, Regina Treudler, Anja Wassmann-Otto, Torsten Zuberbier, Thomas Werfel, Margitta Worm
Einleitung
Die Nicht-Zöliakie-Gluten-Sensitivität oder Nicht-Zöliakie-Weizen-Sensitivität (englisch: „non-celiac gluten sensitivity“, NCGS) ist ein aktuell häufig zitiertes Krankheitsbild. Der Pathomechanismus ist unklar und aussagekräftige Diagnoseparameter fehlen. Ob es sich tatsächlich um eine eigenständige Erkrankung handelt und welcher Inhaltsstoff des Weizens der verantwortliche Trigger ist, wird seit Jahren kontrovers diskutiert [1–6]. Neben einer unerkannten Zöliakie werden ursächlich auch Sonderformen des Reizdarmsyndroms (RDS) oder bislang nicht diagnostizierte Motilitätsstörungen für das Beschwerdebild verantwortlich gemacht [7, 8], sodass Betroffene häufiger fälschlicherweise als NCGS-Patienten eingeordnet werden.
Zum Thema NCGS wurden bisher drei internationale, aber nicht unabhängige Konsensuskonferenzen abgehalten [9–11]. Im Rahmen eines dritten Expertentreffens wurde ein Algorithmus zur Diagnose entwickelt, der allerdings aus allergologischer Sicht nicht geeignet ist, eine sichere Diagnose zu stellen [11]. Weitere Kritikpunkte und Überlegungen möchten wir im Folgenden diskutieren:
- Fehlende Diagnosekriterien oder Biomarker, häufige Selbstdiagnosen, unklare Häufigkeit und unbestätigter Pathomechanismus bei NCGS
- Identifizierung von Gluten als Auslöser in kontrollierten Provokationstests durch hohe Nocebo- und häufige Placebo-Effekte beeinträchtigt
- Zahlreiche Störgrößen (Confounder) bei Bewertung der subjektiven Symptomatik unter glutenarmer beziehungsweise -freier Kost
- Potenzielle Nachteile und Risiken überwiegen bei einer medizinisch unbegründeten glutenfreien Kost
- Empfehlenswertes Vorgehen bei Selbstdiagnose oder Verdacht einer NCGS
Abstract
In den letzten Jahren häuft sich die Nennung der Nicht-Zöliakie-Gluten-/Weizen-Sensitivität (NCGS, „non celiac gluten sensitivity“) sowohl in den Medien, aber auch in Fachkreisen. Die Existenz und die möglichen verantwortlichen Trigger werden kontrovers diskutiert. Drei internationale Expertentreffen mit Empfehlungen zur NCGS waren nicht unabhängig organisiert und wenig transparent bezüglich potenzieller Interessenkonflikte der Teilnehmer. Die vorliegende Stellungnahme enthält wichtige Überlegungen aus allergologischer und ernährungsphysiologischer Sicht: (1) Aufgrund häufiger Selbstdiagnosen, unklarer Prävalenz und unbestätigter Ätiologie der NCGS sind validierte Diagnosekriterien und/oder verlässliche Biomarker notwendig. (2) Infolge hoher Nocebo- und häufiger Placebo-Effekte konnte Gluten bislang nicht sicher als Auslöser einer NCGS identifiziert werden. Doppelblinde, placebokontrollierte Provokationen (DBPCFC: double-blind, placebo-controlled food challenge) sind bei Verdacht auf NCGS nur in modifizierter Form (verändertes Verhältnis von Placebo zu Verum) geeignet. (3) Zahlreiche Störgrößen (Confounder) erschweren die Bewertung subjektiver Symptome unter glutenarmer/-freier Kost. Letztere kann je nach Lebensmittelauswahl (z. B. vermehrt Gemüse mit löslichen Ballaststoffen) physiologische Verdauungseffekte bewirken und gastrointestinale Transitzeiten unabhängig vom Glutenverzicht verändern. (4) Streng glutenfreie Kost ist bei einer gesicherten Zöliakie wissenschaftlich begründet und unerlässlich. Bei einem medizinisch unbegründeten Glutenverzicht überwiegen jedoch potenzielle Nachteile und Risiken. (5) Aktuell kann wegen fehlender überzeugender Diagnosekriterien bei Verdacht einer NCGS ausschließlich eine sorgfältige Differenzialdiagnostik empfohlen werden. Hierzu gehören eine sorgfältige Anamnese, einschließlich eines Ernährungs- und Symptomtagebuchs, eine allergologische Diagnostik und ein sicherer Ausschluss einer Zöliakie.
Wir befürworten ein derartiges strukturiertes Vorgehen, da ohne eine medizinisch gesicherte Diagnose die Durchführung einer längeren Glutenkarenz nicht zu empfehlen ist.
1 Begutachtetes Original dieses Positionspapieres: Reese I, Schäfer C, Kleine-Tebbe J et al. Non-celiac gluten/wheat sensitivity (NCGS) – a currently undefined disorder without validated diagnostic criteria and of unknown prevalence. Position statement of the task force on food allergy of the German Society of Allergology and Clinical Immunology (DGAKI). Allergo J Int 2018;27:147–51
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Springer Medizin Verlag GmbH.
Englische Version: www.dgaki.de/wp-content/uploads/2018/08/Reese-I-et-al-Non-Celiac-Gluten-Sensitivity-NCGS-German-Position-Paper-Allergo-J-Int-8-2018.pdf
Den vollständigen Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 11/2018 von Seite M634 bis M638.
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