Nachschlag 12/2020: Gender(un)gerechte pomologische Sprachschöpfungen

Da wir redaktionell gerade eine Stellenausschreibung formuliert hatten, waren wir für gendergerechte, nicht diskriminierende Formulierungen noch frisch sensibilisiert und dann flattert uns doch eine Pressemeldung zur aktuellen Apfel-Neuheit aus deutschem Anbau ins Mail-Postkörbchen: „Fräulein“1 heißt tatsächlich eine neue Apfelsorte, die ansonsten politically correct – regional und saisonal – mit 180 Tonnen in der Adventszeit auf Wochen- und in Supermärkten verfügbar sein soll.

Nachdem die semantische Verkleinerungsform der Frau bereits 1971 aus dem offiziellen Amtsdeutsch2 gestrichen wurde und in der Folge zusehends auch von den Namenschildchen verschwanden (ja, so hießen Badges damals), reibe ich mir da doch die Augen: Jahrzehntelange Debatten um die Angemessenheit und Konnotationen dieser Anredeform und jetzt darf jede/r im Supermarkt knackige Fräuleins beschnuppern und sogar vernaschen? Zielt man mit der sprachlichen Rolle rückwärts gar auf das ältere – von Befindlichkeiten bei diesem Begriff noch weniger belastete Publikum – quasi eine #MeToo-unsensible Maßnahme zur Erhöhung des Obstverzehrs älterer Menschen? Da warte ich doch auf die Obstneuheit „Dude“ zur Ansprache des jüngeren Publikums!

Nun unterliegen die pomologischen (also obstbaumkundlichen) Bezeichnungen einem traditionellen Wandel: Da wimmelt es bei alten Apfelsorten von Geheimräten (Oldenburg), Freiherren (Berlepsch) und sogar Kronprinzen (Rudolph). Die jüngeren Züchtungen sind teilweise zungenholpernde Wortschöpfungen, um das „Re“ für schorfresistent oder das „Pi“ (für den Züchtungsort Dresden-Pillnitz) einzubauen. Bodenständige Ehrlichkeit beim „Rheinischen Krummstiel“ trifft auf fast schon verbrauchertäuschende Verklärung wie bei „Goldparmäne“ und „Golden Delicious“. Und sogar als Namensstifter für Computer wird der bereits aus 1796 stammende McIntosh (noch ohne „a“) angesehen.
Die Apfelvielfalt ist also groß und lässt in Zukunft interessante Dialoge zu: Er: Schatz, ich will nur noch kurz nach den Fräulein schauen! – Sie: Du Schafsnase3!

Vielleicht sollten wir aber angesichts des guten Nährstoffprofils diese Sprachempfindlichkeiten einmal ausblenden und uns gerade in der dunklen Jahreszeit an der geschmacklichen Vielfalt von Äpfeln und Birnen – gerne auch in der Bratvariante mit Nüssen – erfreuen. Lassen Sie es sich schmecken!

Ihr
Udo Maid-Kohnert

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1 Die namentliche Nennung dieser Neuheit, also Product-Placement, wird hoffentlich durch die glossierende Kritik an der Namenswahl ausgeglichen und somit redaktionelle Neutralität wiederhergestellt! Bis zum Redaktionsschluss lagen uns keine Kostproben vor!
2 www1.wdr.de/stichtag/stichtag5184.html  BRD schafft Anrede „Fräulein“ im Amtsdeutsch ab
3 Je nach Region gibt es gleich mehrere Schafsnasen-Sorten.



Diesen Artikel finden Sie wie auch die Vorschau auf die nächste Ausgabe in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 12/2020 auf Seite M752.

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