Die Unsicherheiten bleiben

Im Dezember konnten wir die allgemeine Ratlosigkeit von Politik und Gesellschaft bei der Lösung der Finanz-, Klima-, Flüchtlings- und Wirtschaftskrise sowie der unsicheren Weltlage noch durch die Flucht in die glühwein- und bratapfelselige Idylle der Weihnachtsmärkte und bewährter Weihnachtsrituale im Familien- und Freundeskreis verdrängen. Doch jetzt, im Januar, müsse wir leider feststellen, dass sich die vielen alten Probleme nicht in der stillen Nacht oder im Raketennebel der Silvesternacht einfach in Luft aufgelöst haben. Das heißt: Die alten Unsicherheiten bleiben, und es ist gut möglich, dass noch neue hinzukommen.

Auch ein Blick auf einige Lehren aus der glücklicherweise weitgehend überwundenen Corona- Pandemie stimmt wenig hoffnungsvoll. Es hat sich nämlich gezeigt, dass die damals ergriffenen Maßnahmen wie Mundschutz und Schutzimpfungen, so erfolgreich sie auch waren, von den Rändern der Politik zu einer populistischen Mobilisierung einiger lautstarker Bevölkerungsgruppen gegen „die da oben“ genutzt wurden. Ähnlich wie gesundheitspolitisch notwendige Impfvorgaben bewegen sich auch Ernährungsvorschriften an der Schnittstelle zwischen Individuum, Gesellschaft und Staat mit entsprechend hohem Konfliktpotenzial. Jegliche Maßnahmen, die einerseits die gesamte Gesellschaft betreffen und andererseits in die persönliche Lebensführung eingreifen, scheinen bei den derzeitigen parteipolitischen Konstellationen nicht nur in unserem Land für politisch nutzbaren Widerstand und erhebliches, möglicherweise wahlentscheidendes Potenzial prädestiniert zu sein. Keine Partei, die ernsthaft eine Regierungsbeteiligung anstrebt, dürfte es derzeit wagen, einen fleischfreien Wochentag, die Verbannung der Currywurst aus der Betriebskantine oder den Ersatz von Pizzas durch Sellerieschnitzel in Kitas zu fordern. Schnell würde der Vorwurf nach Bevormundung, Gängelung und Indoktrination ertönen.
Vor diesem Hintergrund wird es im Jahr 2024 spannend sein, zu beobachten, wie eingreifend die einst groß angekündigte Ernährungswende ausfällt und ob die mit Spannung erwartete Ernährungsstrategie ordnungsrechtliche Eingriffe oder Verbote enthält. Eine Transformation der Ernährungssysteme hin zu mehr Tierwohl, Umwelt-, Klima- und Artenschutz und hin zu einer gesundheitsförderlicheren Ernährung wäre zwar notwendiger denn je. Angesichts der aktuellen Finanzkrise und des erstarkenden Populismus ist aber zu befürchten, dass eine entsprechende Agenda vorerst nicht mehr mit höchster Priorität verfolgt wird.
Spannend wird es auch sein, zu sehen, was der auf Anregung des Bundestags eingesetzte Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ in seiner Bürgerexpertise empfehlen wird und wie sich diese zu den Inhalten der Ernährungsstrategie verhält. Was ist, wenn beides nicht kongruent ist und die Vorstellungen der Durchschnittsverbraucher*innen des Bürgerrats weit von denen der Politik und Wissenschaft entfernt sind? Völlig offen ist auch die Ausgestaltung der vom Bundesgesundheitsminister angekündigten Einrichtung eines Bundesinstituts für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM). Bislang ist nicht erkennbar, ob die Prävention nichtübertragbarer Krankheiten nur aus der medizinischen Perspektive betrachtet wird, oder ob Prävention ganzheitlich unter Einbeziehung modifizierbarer Umwelt- und Lebensbedingungen sowie Ernährungsfaktoren gedacht wird.

Sicher ist aber, dass auch im Jahr 2024 eine nachhaltigere Ernährung auch eine gesündere Ernährung sein wird, mit oder ohne politischen Rückenwind.

Ihr Helmut Heseker



Dieses Editorial finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 1/2024 auf Seite M1.

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