Editorial 2/2018: Die Kritik wird lauter

Seit Jahren liegen die Hauptursachen für die Entstehung von Übergewicht und weit verbreitete ernährungsabhängige Erkrankungen auf dem Tisch, ohne dass wirksame ernährungspolitische Maßnahmen ergriffen wurden. Achim SPILLER et al. haben uns kürzlich einen umfassenden Überblick über die grundsätzlich zur Verfügung stehen Instrumente und ihre Wirkweisen gegeben.1

Jetzt wird die Kritik an der Passivität der Politik lauter. Ärzte, die tagtäglich die katastrophalen Folgen einer langfristigen überkalorischen, zucker- und fettreichen Ernährung beobachten, machen mobil. So ruft die Deutsche Leberstiftung mit Nachdruck zum Verzicht von zu viel Zucker auf, um die Entstehung einer nicht-alkoholische Fettleberentzündung zu vermeiden. Gleichzeitig machen in einer konzertierten Aktion und Unterschriftenaktion Ärzte klar, dass ohne ein entscheidendes Eingreifen der Politik die Adipositas- und die Diabetesepidemie nicht zu stoppen seien (=> www.aerzte-gegen-fehlernaehrung.de). Zahlreiche Ärzteverbände und Fachgesellschaften fordern in einem offenen Brief an die künftige Bundesregierung sowie an die Parteivorsitzenden eine effektive Prävention nichtübertragbarer chronischer Krankheiten durch eine verständliche Ampel-Lebensmittelkennzeichnung, verbindliche Standards für Schul- und Kitaverpflegung, Beschränkungen der an Kinder gerichteten Lebensmittelwerbung sowie steuerliche Anreize für die gesundheitsförderliche Reformulierung von Lebensmitteln. Freiwillige Vereinbarungen mit der Lebensmittelindustrie hätten sich als vollkommen wirkungslos erwiesen.

Und die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) fordert konkret: „Mit gesunder Mehrwertsteuer die Übergewichtswelle stoppen“ und empfiehlt der Ernährungspolitik das Umsatzsteuer-Kuddelmuddel2 zu beenden und eine gesundheitsförderliche Umsatzsteuerreform vorzunehmen, bei der Gemüse und Obst von der MwSt. befreit, normale Grundnahrungsmittel mit 7 % und Produkte mit zugesetztem Zucker, Salz und Fett mit 19 % besteuert werden sollten.

Selbst das neu formierte Bundeszentrum für Ernährung lässt die Frage stellen: „Die Zuckersteuer – Mittel zur breitenwirksamen Prävention von Adipositas?“ (Ernährung im Fokus 11–12/2017) und erkennt vor dem Hintergrund der potenziellen Wirkungsweise und internationaler Beispiele an, dass mit dem Präventionsinstrument „Zuckersteuer“ eine Verlangsamung der Gewichtszunahme erreicht werden kann.

Die Lebensmittelindustrie versucht indes, wirksame regulatorische Maßnahmen zu verhindern. Katrin SCHALLER und Ute MONS analysieren in einem spannenden Beitrag (=> ab S. M82) deren Methoden und sehen große Parallelen zu den Taktiken der Tabakindustrie, die es über Jahrzehnte geschafft hat, wirksame regulatorische Maßnahmen zu verhindern. Die Autorinnen machen Mut, dass es mit einem starken politischen Willen, Unterstützung aus Fachkreisen und der Bevölkerung aber möglich sei, wirksame Maßnahmen auch gegen den massiven Widerstand der Industrie einzuführen.

Im Gegensatz zu den Zuckerlobbyisten scheinen erste Handelsketten die Zeichen der Zeit erkannt zu haben, entwickeln eine Zuckerreduktionsstrategie und bekennen sich zu ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. Nach einem Start mit rund 100 zuckerreduzierten Pilotprodukten sollen z. B. bei REWE bis 2020 alle Eigenmarkenprodukte mit reduziertem Zuckergehalt verfügbar sein.
Wir werden Sie über weitere Entwicklungen auf dem Laufenden halten. 

Ihr Helmut Heseker

=> 1 Ernährungs Umschau Special-Beitrag 3/2017 und 4/2017 
=> 2 Ernährungs Umschau „Zu guter Letzt“ 5/2017 und 7/2017

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