Editorial 03/2016: Nicht logisch, aber faszinierend

Wir müssen jeden Tag unzählige Entscheidungen treffen – kurz- und langfristige, mit einfachen und komplexen Folgen. Wie wir sie treffen, hängt von unserer Persönlichkeit und unserer Umwelt ab, unserer momentanen Stimmung ebenso wie der spezifischen Situation. Cass Sunstein, einer der Erfinder des in diesem Heft vorgestellten Nudging-Konzeptes, veranschaulicht in Anlehnung an den Psychologen Daniel Kahnemann zwei grundsätzliche Typen von Entscheidungen an den gegensätzlichen Figuren Pippi Langstrumpf und Mr. Spock.1 Wer diese beiden kennt, hat eine Vorstellung davon, welche Zugänge zur Entscheidungsfindung hier gemeint sind.

Nun neigen wir als Persönlichkeiten vielleicht zu dem ein oder anderen Typ, setzen jedoch grundsätzlich je nach Situation beide ein. Einzelne Essentscheidungen gehören dabei eher dem spontanen Typ an, wie Gertrud Winkler in ihrem Beitrag ausführt (=> S. M162). Und die spontanen, gefühlsgesteuerten, automatisierten „Pippi-Langstrumpf“-Entscheidungen lassen uns allzu häufig zum vor uns liegenden Leckerbissen greifen, bevor Mr. Spock Gelegenheit hat, logisch dagegen zu argumentieren.

An dieser dauernden Diskrepanz setzt Nudging an. Diesen Namen trägt die neue „Geheimwaffe“, die uns im Bereich Public Health immer häufiger begegnet. Auf Deutsch bedeutet to nudge „anstupsen“. Bezeichnet wird damit eine Strategie, mit der es uns einfacher gemacht werden soll, bei spontanen Entscheidungen ein aus unterschiedlichen Gründen erwünschtes Verhalten zu verfolgen. In der wissenschaftlichen Ernährungswelt wird dabei seit langem gesundheitsförderndes Essverhalten als erwünschter Standard gesetzt (was im wirklichen Leben nur ein Motiv unter vielen ist). Nudging im Ernährungsbereich soll also Menschen dazu anstupsen, in einzelnen Situationen gesündere Essentscheidungen zu treffen. 

Grund für den großen Optimismus, den das Konzept Nudging bei Institutionen und der Politik weckt, sind eine Reihe von inzwischen durchgeführten Studien, in denen entsprechende Maßnahmen ausprobiert wurden. Viele zeigten Erfolg: Kleinere Portionen wurden z. B. häufiger gewählt, wenn sie als Standardportion galten. Gerade die Änderung der Standardoption bzw. -portion beeinflusst Entscheidungen überraschend stark, wie im => Interview mit Britta Renner ab S. M168 zu lesen ist. Um unser Gehirn zu schonen, bevorzugen wir bei Alltagsentscheidungen offensichtlich den einfachen Weg.

Aber auch die Verfügbarkeit spielt eine große Rolle, z. B. beim Trinken (=> Originalbeitrag ab S. M143). Steht Wasser nach dem Sport bereit, trinken wir dies – bekommen wir bei der Betriebsfeier als erstes einen Sekt in die Hand gereicht, nehmen wir eher den, auch wenn wir vielleicht Durst haben. Zentral für das Prinzip Nudging, welches auch als choice architecture bezeichnet wird, ist die gewahrte Entscheidungsfreiheit: kein Zwang, keine Strafe. Der Verbraucher entscheidet selbst (=> s. Tobias Vogel S. M157) – und wählt eben häufig die offensichtlichere Option, was die Befürworter der neuen Nudging-Glückseligkeit jubeln lässt.

Schon sind aber auch die Kritiker auf dem Plan: „Bevormundung“, „Paternalismus“, „Manipulation der Bürger“ ruft das Echo aus der Tagespresse. Wer nun „recht“ hat, welche Chancen Nudging bietet, welche Überlegungen es erfordert und wie es im Ernährungsbereich genutzt werden kann, zeigt unser März-Special ab S. M156.

Ihre Sabine Schmidt

1 Sunstein C. Why nudge? The politics of Libertarian Paternalism. Yale University Press, New Haven & London (2014)



Das Editorial finden Sie auch in Ernährungs Umschau 03/16 auf Seite M129.

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