Editorial 5/2018: Kennst du dein Limit?

Noch einen Willkommensdrink, schönen Tropfen, Absacker, Schlummertrunk …
Wir begegnen Alkohol in allen Gesellschaftsbereichen, zu fast allen sozialen Anlässen, in allen Milieus – als Zeichen von Gastlichkeit und Freundschaft, von Feierlaune und sozialem Status, von Kummer und Zuneigung. Ungeheuer fest ist das Trinken alkoholischer Getränke mit unserem sozialen Zusammenleben verwoben, und das seit Anbeginn der europäischen Kultur. Nimmt man hingegen nicht an diesen allgemein üblichen Verzehrritualen teil, aus gesundheitlichen Gründen oder als „straight-edger“ (klare Kante zeigen, eine Jugendbewegung aus den USA), dauert es eine ganze Weile, bis das Umfeld dies nicht mehr hinterfragt, die Person sich nicht mehr rechtfertigen muss.

Prosit, Salut, zum Wohl!, Cheers, Stößchen …
Im Gegensatz zu anderen Rauschmitteln sind alkoholische Getränke also nicht nur in allen gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen verbreitet, sondern auch breit akzeptiert. Bisherige Versuche zu Anfang des letzten Jahrhunderts – nach den Auswüchsen des Alkoholismus zu Zeiten der Industrialisierung – die Menschen und ihre Lebensführung mit einem Verkaufsverbot vom Alkohol zu lösen, waren nicht sonderlich erfolgreich. Warum?

Ein Grund dafür liegt darin, dass Bier, Wein und Branntwein Kulturgüter sind. Weinbau und Bierbrauerei sind jahrtausendealte, schon im antiken Ägypten und der Bibel beschriebene Kulturtechniken. Dazu kommt der Genuss: Alkohol gibt Getränken einen besonderen, durch andere Zutaten nicht erreichbaren Geschmack. Die Auswahl alkoholfreier Biere kommt dem zwar nahe, aber schließlich ist da ja noch die berauschende Wirkung des Alkohols.

Alkohol wird daher nicht verboten werden – zu viele, mich eingenommen, genießen sein „gutes“ Gesicht. Aber der Alkohol trägt eben einen Januskopf: Die, die der Sehnsucht nach Rausch (=> Zu guter Letzt S. M296) nicht gewachsen sind, bekommen seine hässliche Seite zu sehen. Für sie kann er zum Dauer-Beruhigungs- oder -Überlebensmittel werden und abhängig machen. Schleichend ist der Prozess des Kontrollverlusts über die eigenen Trinkgewohnheiten und allzu oft verheimlichen die Betroffenen ihr Leiden. Sie sind die Verlierer der Alkoholkultur: Spätestens seit den Zeiten der Aufklärung sozial stigmatisiert als undisziplinierte „Alkis“ haben sie den Balanceakt nicht geschafft: „Ordentlich mitzufeiern“, immer offen für ein Gläschen zu sein, sich dabei aber auf der „guten“ Seite der Trinker zu halten.

Dabei ist Alkoholabhängigkeit eine chronische Erkrankung wie viele andere auch, die ebenfalls mit dem Lebensstil verbunden sind, so der in einer Suchtklinik arbeitende psychologische Psychotherapeut Jannes HECHT in seinem sehr aufschlussreichen Beitrag ab S. M270 in diesem Heft.

Wenn Sie unsere beiden Artikel zum Alkohol (in diesem und im letzten Heft) gelesen haben, denken Sie vielleicht auch, dass – gerade weil alkoholische Getränke so sehr zu unserer Gesellschaft gehören – die Risiken des Konsums deutlich mehr in der Öffentlichkeit thematisiert werden sollten. Mit dem neuen online-Portal „www.kenn-dein-limit.info" (=> S. M295) geht die BZgA einen guten Schritt, aber es bedarf weiterer Anstrengungen, um hier voranzukommen. Immerhin gibt es vorweisbare Erfolge beim Rauchen, an die vor 25 Jahren keiner geglaubt hätte. Angesichts wieder nach unten korrigierter Grenzwerte für risikoarmen Alkoholkonsum (=> S. M237) und neuer Studien, die die Gehirnschädigung durch Alkoholkonsum ernster einschätzen als bisher1, sollten auch wir Ernährungsfachkräfte hier nicht lockerlassen.

1 vgl. Topiwala A et al.: www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/28588063 

Ihre Sabine Schmidt



Diesen Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 5/2018 auf Seite M233.

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