Früher war alles besser!

Wenn ich vor Jahren mit meinen Großeltern sprach, kam nicht selten die Aussage aus der Überschrift. Der Schnee lag im Winter höher, die Kinder waren besser erzogen und – ja – auch das Essen hatte mehr Geschmack... – wenn es denn ausreichend vorhanden war.

So erinnert auch der in regelmäßigen Zyklen den Buch- und Ess-Style heimsuchende Paläo-Trend an diese Vergangenheits-Verklärung: Bereits 2003 erschien in der ERNÄHRUNGS UMSCHAU ein Übersichtsartikel zum Thema1, unser damaliges Editorial lautete „Back to the roots“2, und 2006 griffen wir das Thema „Evolutionäre Ernährungswissenschaft“ erneut auf – mit ernüchternden Fakten über die angeblich wissenschaftlichen Grundlagen dieses Trends.3 Die steinzeitlichen Empfehlungen sind also nicht neu und kommen häufig gepaart mit einem Schuss Unbehagen gegenüber lebensmitteltechnologischen Errungenschaften daher.

„Ungefähr 49.900.000 Ergebnisse“ kündigt mir Google bei der Suchanfrage „paleo“ an. Wem das nicht reicht, der wird vielleicht bei den verwandten Suchanfragen paleo rezepte/paleo erfahrungen/paleo festival/paleo brot ... usw. fündig. Können so viele Anbieter, Ratgeber, Blogs etc. irren? Nun ja, bei Aussagen wie „Alles, was aus Getreide hergestellt wird, muss weg: Brot, Nudeln, Gebäck, usw. Denn im Getreide sind Giftstoffe!“4 kommen mir Bedenken. Als ich während meines Studiums im Anthropologie-Kurs menschliche Schädel untersuchen musste, fielen mir die auf, bei denen die Zähne weit bis ins Zahnbein hinein abgenutzt waren, weil in alter Zeit Grassamen/Getreidekörner samt silikatreichen Spelzen und Sand-Anhaftungen verzehrt wurden: Hunger leiden oder Zahnschmerzen erdulden, das war in großen Zeiträumen das Dilemma der Menschen in vielen Gegenden der Welt – trotz vergleichsweise geringer Weltbevölkerung. Und wenn die Paläo-Befürworter teilweise Perversionen der aktuellen Lebensmittelerzeugnisse anprangern: Diese gibt es sicher, ich würde sie aber eher in der Massentierhaltung oder Auswüchsen der Bio-Ethanol-Gewinnung suchen als im Anbau ertragreicher Getreidesorten zur menschlichen Ernährung.

Unser Special in diesem Heft stellt die Frage, was wir über die menschliche Ernährung in der Vorzeit mittlerweile wissen, und prüft die Relevanz dieser Daten für unsere heutige Ernährungsweise. Denn letztendlich müssen sich Ernährungsempfehlungen nicht nur am erwünschten gesundheitlichen Status des Einzelnen ausrichten. Immer drängender wird die Frage: Welche Ernährungsweisen sind – unter Berücksichtigung regionaler und kultureller Gegebenheiten – insgesamt für eine weiter wachsende und älter werdende Weltbevölkerung praktikabel und nachhaltig, erschwinglich und dabei der Gesundheit zuträglich?

Ihr Udo Maid-Kohnert

1 Zittermann A (2003) Aktuelle Ernährungsempfehlungen vor dem Hintergrund prähistorischer Ernährungsweise. Ernährungs Umschau 50(11): 420 ff.
2 Erbersdobler, H (2003) Back to the roots? Ernährungs Umschau 50(11): 417
3 Ströhle A, Hahn A (2006) Evolutionäre Ernährungswissenschaft und „steinzeitliche“ Ernährungsempfehlungen – Stein der alimentären Weisheit oder Stein des Anstoßes? Ernährungs Umschau 53(2): 52 ff.
4 Den Link zu diesem Anbieter möchte ich besser gar nicht weitergeben…



Das Editorial finden Sie auch in Ernährungs Umschau 06/16 auf Seite M317.

Das könnte Sie interessieren
Bunt und außer Kontrolle weiter
Erfassung der Patient*innenzufriedenheit in der ambulanten Ernährungsberatung und... weiter
Der VDOE-Vorstand hat sich konstituiert weiter
Zähes Ringen um leistungsgerechte Vergütung weiter
Neue lebensmittelbezogene Ernährungsempfehlungen für Deutschland, Österreich und die... weiter
Ernährungsforschung an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAWs) weiter